forumpoenale_6_2016.pdf

AUFSÄTZE 387

ger ausgelegt, als es dem EGMR in M.N. v. San Marino vor­ schwebt. 97 Zwar werden unter dem Begriff der «persönlich und direkt betroffenen Person» mit «schutzwürdigem Inte­ resse» nach Art. 80h lit. b IRSG neben dem Beschuldigten auch eventuelle Drittpersonen verstanden; geht es jedoch um die Erhebung von Kontoinformationen, ist mit dem «be­ troffenen Dritten» ausschliesslich der Kontoinhaber selbst gemeint (Art. 9a lit. a IRSV). Eventuelle Drittpersonen, de­ ren Identität sich aus den Bankunterlagen ergibt, sind nach der aktuellen Schweizer Rechtsprechung nicht beschwerde­ berechtigt. 98 Diese relativ enge und strikte Auslegung des Betroffenenbegriffs wird v. a. mit dem Interesse des Staates an einer effizienten Erledigung von Rechtshilfeersuchen ge­ rechtfertigt. 99 Da gerade das Argument der Verfahrenseffi­ zienz auf Kosten der Beteiligtenrechte in M.N. v. San Marino beim EGMR auf wenig Verständnis stiess, 100 erscheint die geltende schweizerische Praxis aus menschenrechtlicher Sicht problematisch. 101 Günstig für die Schweiz fiel die Entscheidung G. S. B. v. Switzerland 102 aus. Konkret ging es um die Lieferung von Bankunterlagen an die amerikanischen Steuerbehörden auf­ grund des durch die Bundesversammlung am 27. 6. 2010 genehmigten Abkommens über Amtshilfe in der Sache UBS (sog. «UBSAbkommen»). 103 Der Gerichtshof bestätigte, dass das UBSAbkommen eine gültige rechtliche Grundlage für die Beschränkung des Rechts auf Privatleben durch Amtshilfemassnahmen ist 104 und dass der Eingriff in die Privatsphäre betroffener Personen einen legitimen Zweck (Schutz der substanziellen wirtschaftlichen Interessen der Schweiz) verfolgt. 105 Das Interesse an der Erhaltung eines für den Staat bedeutenden Wirtschaftszweigs überwog im konkreten Fall das Recht des Beschwerdeführers auf Schutz seiner Privatsphäre, weshalb auch die Notwendigkeit der Massnahme bejaht wurde. 106 97 Nach Art. 80h lit. b) IRSG ist beschwerdeberechtigt, wer persönlich und direkt von einer Rechtshilfemassnahme betroffen ist und ein schutzwürdiges Interesse an deren Aufhebung oder Änderung hat. 98 Bussmann, in: Niggli/Heimgartner (Hrsg.), BSK IRSG GwÜ, Basel 2015, Art. 80h N 38; BGE 122 II 130, 133. 99 Bussmann, BSK IRSG GwÜ, (Fn. 98), Art. 80h N 26, 32. 100 EGMR, M.N. v. San Marino, §§ 69, 80, 83. 101 Dasselbe gilt für den Begriff des Beschwerdeberechtigten bei der Amts­ hilfe in Steuersachen nach Art. 19 Abs. 2 StAhiG. Nach aktueller Rechtsprechung sind Drittpersonen, deren Identität sich aus den Bank­ unterlagen ergibt, die aber vom Verfahren nicht direkt betroffen sind, nicht beschwerdeberechtigt (vgl. Schoder, StAhiG Praxiskommentar, Zürich 2014, 124 f.; BGE 139 II 404, 446). 102 EGMR v. 22.12.2015, G.S.B. v. Switzerland. 103 Abkommen vom 19.8.2009 zwischen der Schweizerischen Eidgenos­ senschaft und den Vereinigten Staaten von Amerika über ein Amts­ hilfegesuch des Internal Revenue Service der Vereinigten Staaten von Amerika betreffend UBS AG, einer nach schweizerischem Recht er­ richteten Aktiengesellschaft (SR 0.672.933.612).

Die Entscheidung bezieht sich allerdings auf Sachver­ halte, die laut Angaben des Bundesverwaltungsgerichts nicht mehr Gegenstand von laufenden Verfahren sind. 107 Bemerkenswert ist jedoch die Eindeutigkeit, mit der der EGMR im konkreten Fall den Vorrang wichtiger wirt­ schaftlicher Staatsinteressen vor den Rechten des Individu­ ums feststellt.

VI. Art. 10 EMRK

Im Verfahren Haldimann and Others v. Switzerland hat der EGMR die Verurteilung mehrerer Journalisten zu ge­ ringen Geldstrafen wegen Verstosses gegen Art. 179 quater StGB für unvereinbar mit der Meinungsfreiheit befunden. 108 Die Verurteilten hatten ein Interview mit einem Versiche­ rungsmakler heimlich gefilmt und später unter Berufung auf das öffentliche Interesse an der Offenlegung von Qua­ litätsmängeln beim Vertrieb von Lebensversicherungen aus­ gestrahlt. Ausschlaggebend bei der Abwägung zwischen Informationsinteresse und Persönlichkeitsrechten des ohne Zustimmung Aufgenommenen war, dass die Reportage ei­ nerseits einer wichtigen Frage des Verbraucherschutzes diente und die aufgenommene Person andererseits nicht per­ sönlich angegriffen und auch seine Geschäftsstelle nicht ge­ zeigt wurde. Die Ausstrahlung erfolgte ferner verpixelt und mit veränderter Stimme. Der EGMR befand das Verhalten der Journalisten daher wegen des überwiegenden öffentli­ chen Interesses an der Thematik für konventionsrechtlich erlaubt, weshalb es auch eingedenk der einschüchternden Wirkung auf künftige journalistische Recherchetätigkeiten nicht zum Anlass für (selbst lediglich geringfügige) straf­ rechtliche Sanktionen genommen werden durfte. Ebenfalls im Berichtszeitraum fand die Perinçek Saga ihr Ende. Die Grosse Kammer bestätigte die Auffassung der Kammer, dass die Bestrafung von Äusserungen, welche die rechtliche Einstufung der grausamen Verbrechen an den Armeniern während des 1. Weltkriegs als Genozid bestrei­ ten, wegen Rassendiskriminierung Art. 10 verletzt. 109 Die Äusserungen seien als Beitrag zu einer öffentlichen Debatte anzusehen. Da sie nicht zu Hass und Gewalt anstachelten und die Würde der armenischen Gemeinschaft nicht we­ sentlich berührten, liesse sich eine strafrechtliche Verurtei­ lung nicht als notwendig zum Schutz wichtiger Interessen rechtfertigen. Die Schweiz sei auch nicht völkerrechtlich zu einem solchen Vorgehen verpflichtet gewesen. Erst kürzlich wurde die Verurteilung Perinçeks vom Bundesgericht fol­ gerichtig aufgehoben. 110 107 Jusletter v. 11.1.2016, Schweiz durfte Bankdaten an USA weiterge­ ben. 108 EGMR v. 24.2.2015, Haldimann and Others v. Switzerland, §§ 66 f. 109 EGMR (GK) v. 15.10.2015, Perinçek v. Switzerland, zusammenfas­ send § 280. 110 BGer v. 25.8.2016, 6F_6/2016.

104 EGMR, G.S.B. v. Switzerland, §§ 68 ff. 105 EGMR, G.S.B. v. Switzerland, §§ 83 ff. 106 EGMR, G.S.B. v. Switzerland, §§ 92 ff.

6/2016 forum poenale

Stämpfli Verlag

Made with