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einer eventuellen unerlaubten Beweisausforschung, wäre daher angebracht gewesen. Wenig überzeugend ist auch die Feststellung, dass im konkreten Fall ausreichende Schutz­ mechanismen griffen. Die Annahme, dass ein einzelner Untersuchungsrichter in der Lage ist, die Relevanz von 118000 Beweisstücken binnen kurzer Frist zuverlässig abzuschätzen, ist kaum realistisch. Unter pragmatischen Gesichtspunkten lässt sich die Entscheidung des EGMR jedoch nachvollziehen. Angesichts des immer höheren Digitalisierungsgrads und des häufig unübersichtlichen Umfangs zur Verfügung stehender Informationen (gerade auch anwaltlicher Arbeitsunterlagen) ist es wohl unaus­ weichlich, dass an die Überprüfung der Beweisrelevanz nicht allzu hohe Anforderungen gestellt werden können. Auf eine ähnliche Problematik wie Sérvulo & Associa- dos bezieht sich die Entscheidung Vinci Construction and GTMGénie Civil et Services v. France. Sie bot dem EGMR Gelegenheit, einige Standards für die Beschlagnahme von umfangreichen elektronischen Daten auszuarbeiten. 85 Im Rahmen eines Kartellrechtverfahrens war sämtliche E­ MailKorrespondenz mehrerer Unternehmensangestellter beschlagnahmt worden, darunter solche, die durch das An­ waltsgeheimnis geschützt war. Anders als in Sérvulo & As- sociados stand die Verhältnismässigkeit dieser Durchsu­ chung und Beweissicherung grundsätzlich ausser Zweifel. 86 Die Beschwerdeführer brachten jedoch vor, das ihnen vor­ gelegte Verzeichnis der beschlagnahmten Dateien sei un­ vollständig gewesen. Da sie somit nicht zuverlässig wussten, welche Korrespondenz beschlagnahmt worden war und in­ wieweit sich darunter auch anwaltlicher Schriftverkehr be­ fand, sei es ihnen nicht möglich gewesen, die Notwendigkeit der Beschlagnahme wirksam anzufechten. Der Gerichtshof erachtete die bei der Beschlagnahme getroffenen organisatorischen Vorkehrungen insgesamt als ausreichend (u. a. waren im Verzeichnis der beschlagnahm­ ten Beweismittel Dateiname, Dateiendung, Dateipfad, digi­ taler Fingerabdruck aufgeführt und eine Kopie der Datei abgelegt). 87 Der EGMR stellte jedoch fest, dass die Be­ schwerdeführer zur Zeit der Beschlagnahme keine effektive Möglichkeit der Einsicht in den Inhalt der Dateien hatten. Daher müsse eine Kontrolle der Verhältnismässigkeit (v. a. der Relevanz der beschlagnahmten Anwaltskorrespondenz für das Verfahren) a posteriori gewährleistet werden. In dem konkreten Fall beschränkte sich die richterliche Über­ prüfung aber auf die blosse Feststellung, dass die Verfah­ rensvorschriften eingehalten wurden. 88 Da mithin die Ver­ 85 EGMR v. 2.4.2015, Vinci Construction and GTM Génie Civil et Services v. France. 86 EGMR, Vinci Construction and GTM Génie Civil et Services v. France, §§ 69 f., 71 ff., 74. 87 EGMR, Vinci Construction and GTM Génie Civil et Services v. France, § 76. 88 EGMR, Vinci Construction and GTM Génie Civil et Services v. France, §§ 78 ff.

hältnismässigkeit (insbesondere die potenzielle Relevanz der Korrespondenz für die Massnahme) nicht geprüft worden war, bejahte der Gerichtshof eine Verletzung des Art. 8 EMRK. In den Entscheidungen M.N. v. San Marino 89 und G. S. B. v. Switzerland 90 setzte sich der EGMR mit dem Schutz der Privatsphäre bei der internationalen Zusammenarbeit in Strafbzw. Steuerstrafsachen auseinander. In M.N. v. San Marino ging es um ein Rechtshilfeersuchen der italienischen Behörden an San Marino auf Lieferung von Bankunterla­ gen. Die Beschwerdeführer waren im zugrunde liegenden Hauptverfahren nicht involviert gewesen, ihre Namen fan­ den sich jedoch in den rechtshilfeweise gelieferten Bankun­ terlagen. Ihnen fehlte nach dem Recht von San Marino je­ doch die nötige Legitimation («interested Person»), 91 um die Herausgabe der entsprechenden Dokumente anzufech­ ten. Sie brachten zudem vor, dass die ihre Namen enthal­ tenden Unterlagen für das Hauptverfahren im ersuchenden Staat irrelevant seien. Aus diesem Grund sei der Rechtshil­ feantrag als eine unerlaubte Beweisausforschung (fishing expedition) einzustufen. 92 Die Beschwerdeführer warfen den Behörden von San Marino daher eine Verletzung ihrer Privatsphäre vor. Der EGMR führte dazu aus, dass auch in Bankunterlagen enthaltene Informationen unter den An­ wendungsbereich des Art. 8 EMRK fallen. 93 Eine materielle Beschlagnahme und Übergabe der Bankunterlagen sei nicht erforderlich, um die Privatsphäre der potenziell Betroffenen zu tangieren. 94 Er kritisierte daher die enge Ausgestaltung der Beschwerdelegitimation im Rechtshilferecht des ersuch­ ten Staates. Nach Meinung des EGMR hat eine solche Be­ schränkung zur Folge, dass die Rechte gewisser durch die Rechtshilfemassnahme betroffenen Person schlechter ge­ schützt werden als jene der direkt Involvierten (und dadurch beschwerdefähigen). 95 Darin liegt eine Verletzung des Rechts auf Privatleben i. S. v. Art. 8 EMRK. 96 Die Entscheidung des EGMR kann auch für die Schweiz von Relevanz sein. Der Begriff des Beschwerdeberechtigten nach schweizerischem Rechtshilferecht wird u. U. etwas en­

89 EGMR v. 7.7.2015, M.N. v. San Marino. 90 EGMR v. 22.12.2015, G.S.B. v. Switzerland.

91 Dieser Begriff bedeutet nach der ständigen Rechtsprechung der nati­ onalen Gerichte: eine Person, die in das durch den ersuchten Staat ge­ führte Rechtshilfeverfahren involviert war («Objekt des Verfahrens»), oder eine Person, die der Rechtshilfemassnahme unterworfen wurde («subjected to the measure»). 92 EGMR, M.N. v. San Marino, §§ 15, 59.

93 EGMR, M.N. v. San Marino, § 51. 94 EGMR, M.N. v. San Marino, §§ 53 f. 95 EGMR, M.N. v. San Marino, §§ 83 f.

96 Auf die Problematik der eventuellen unerlaubten Beweisausforschung ging der EGMR leider nicht genauer ein. Der Umstand, dass der Rechtshilfeantrag relativ breit formuliert war, hätte laut EGMR je­ doch bewirken müssen, dass dem umfassenden Schutz der Rechte der durch die Rechtshilfemassnahmen betroffenen Personen ein umso grösserer Stellenwert zukam (vgl. EGMR, M.N. v. San Marino, §§ 77, 83).

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