forumpoenale_6_2016.pdf
AUFSÄTZE 385
Details vollends überzeugend finden mag, ist das Ergebnis doch eindeutig und richtig. Spannender und lehrreich ist der historische und rechts politische Hintergrund des Falles. Bereits seit einigen Jah ren ist der EGMR immer wieder dazu aufgerufen, über Fälle aus osteuropäischen Staaten zu entscheiden, in denen An gehörige und Handlanger sowjetischer Sicherheitskräfte für Taten während und nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs nachträglich zur Verantwortung gezogen werden sollen. 77 Diese Bemühungen können auch in den noch grösseren Kon text der Aufarbeitung kommunistischer Straftaten nach dem Ende der Sowjetherrschaft gerückt werden. Diese Be mühungen gleichen einem juristischen Hindernislauf. Für viele Delikte nach gemeinem Strafrecht sind bereits Verfah renshindernisse eingetreten (Verjährung, Immunität) und nicht selten können sich die Täter darauf berufen, dass ihr Verhalten nach damaligem nationalem Recht erlaubt war. Die strafrechtlichen Aufarbeitungsversuche stützen sich da her verstärkt auf das Völkerstrafrecht, das diese Hürden überwinden helfen soll. Auch dies ist aber wie gesehen nicht leicht, weil die massgeblichen Straftatbestände zu den Tat zeitpunkten noch gar nicht oder nicht in dieser Form völ kervertraglich statuiert waren. Für die Prüfung von Art. 7 EMRK stehen Gerichte vor der Herkulesaufgabe, nachträg lich beurteilen zu müssen, welcher völkerrechtliche Straftat bestand in welcher Form ab welchem Zeitpunkt völkerge wohnheitsrechtlich galt und ob diese Rechtsentwicklung damals für den individuellen Täter vorhersehbar war. Dies hat der EGMR bereits für Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit 78 und nun für den Völkermord durchexerziert. Der Schutz des Anwaltsgeheimnisses im Zusammenhang mit einer Durchsuchung von Computersystemen stand im Mittelpunkt des Verfahrens Sérvulo & Associados – So- ciedade de Advogados, RL and Others v. Portugal. 79 Kon kret ging es um Sicherung von elektronischen Dateien und EMailKorrespondenz für Beweiszwecke. Die zu sichern den Dateien und EMails wurden anhand von 35 im Durch 77 EGMR (GK) v. 17.5.2010, Kononov v. Latvia; EGMR v. 17.1.2006, Kolk and Kislyiy v. Estonia; EGMR v. 24.1.2006, Penart v. Estonia. 78 S. Fn. 77. 79 EGMR v. 3.9.2015, Sérvulo & Associados – Sociedade de Advogados, RL and Others v. Portugal; um andere wichtige Aspekte der Privat sphäre bei der Ausübung der Anwaltstätigkeit ging es bei: EMRK v. 27.10.2015, R.E. v. the United Kingdom (betreffend Voraussetzungen einer Überwachung von Kommunikation mit einem Anwalt sowie be treffend Aufbewahrung des auf diesem Weg erlangten Beweismateri als; Verletzung von Art. 8 EMRK bejaht) und EGMR v. 1.12.2015, Brito Ferrinho Bexiga Villa-Nova v. Portugal (Anwesenheitsrecht; Gewährleistung der Überprüfungsmöglichkeit; Erlanger der Bankun terlagen eines Anwalts; Verletzung des Art. 8 EMRK bejaht). V. Art. 8 EMRK
suchungsbefehl genannten Stichwörtern ausgesondert. Da runter befanden sich auch ziemlich häufig benutzte Worte (bspw. «payments», «funding» ). Die Beschwerdeführer brachten vor, dass der Durchsuchungsbefehl zu weit formu liert und die Sicherung der Informationen in solchem Um fang unverhältnismässig war. Sie beschwerten sich überdies wegen des Fehlens von Ausgleichsmechanismen, die den Schutz des Anwaltsgeheimnisses bei einer solchen Durch suchung gewährleisten würden. 80 Der Gerichtshof stellte fest, dass die Beweissicherung anhand von teilweise sehr allgemeinen Kriterien erfolgte. Die Menge der beschlagnahmten Dateien war nach Mei nung des EGMR relativ gross, aber nicht unverhältnismäs sig (89000 Dateien und 29000 EMails; hiervon wurden 850 Dateien nach der Kontrolle durch den Untersuchungs richter als für das Verfahren nicht relevant gelöscht). 81 Auch genügende gesetzliche Schutzmechanismen seien vorgesehen gewesen, namentlich Anwesenheitsrechte der Beschwerde führer sowie eines Vertreters der Rechtsanwaltskammer, nachträgliche Kontrolle des gesicherten Materials durch den Untersuchungsrichter und Prüfung der Entscheidung des Untersuchungsrichters durch eine höhere Instanz. Die ent sprechenden Verfahrensvorschriften seien formell eingehal ten worden. 82 Zweifelhaft war jedoch die Vorgehensweise bei der Kontrolle des gesicherten Beweismaterials durch den Untersuchungsrichter, der allein für das aussergewöhnlich umfangreiche Verfahren zuständig war. Das Material, über dessen Verfahrensrelevanz er entscheiden sollte, umfasste ca. 118000 Dateien und EMails. Aus Sicht des EGMR war aber nicht ausreichend glaubhaft gemacht worden, dass die Kontrolle durch den Untersuchungsrichter (infolgedessen) lückenhaft war. Die Eindeutigkeit und Kürze, mit der der Gerichtshof feststellt, dass dem Schutz der Privatsphäre ausreichend genügt wurde, 83 vermag jedoch nicht ganz zu überzeugen. Wie in einem Sondervotum bemerkt wurde, 84 hat die Kammer einige Fragen ignoriert bzw. übersehen. Die schiere Menge gesicherter Informationen (ca. 118000 Dateien) sowie die Art, wie diese Informationen herausgefiltert wurden (mittels z. T. sehr allgemeinen Schlagwörtern), lassen bezweifeln, ob diesem Material mehrheitlich eine direkte oder zumindest indirekte Relevanz für das Verfah ren zukommt. Eine nähere Untersuchung der Verhältnis mässigkeit der Massnahme, insbesondere der Problematik 80 EGMR, Sérvulo & Associados – Sociedade de Advogados, RL and Others v. Portugal, §§ 83 ff., 108. 81 EGMR, Sérvulo & Associados – Sociedade de Advogados, RL and Others v. Portugal, §§ 103 f. 82 EGMR, Sérvulo & Associados – Sociedade de Advogados, RL and Others v. Portugal, § 105. 83 EGMR, Sérvulo & Associados – Sociedade de Advogados, RL and Others v. Portugal, § 110. 84 Sondervotum des Richters Saragoça Da Matta (Portugal) zu der Entscheidung EGMR, Sérvulo & Associados – Sociedade de Advoga- dos, RL and Others v. Portugal.
6/2016 forum poenale
Stämpfli Verlag
Made with FlippingBook