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verwahrung gezeigt haben, kann auch die Art und Weise des Vollzugs dazu führen, dass einer Massnahme im Nach­ hinein die Qualität einer Strafe zuwächst. Dem gilt es durch eine massnahmegerechte Vollzugspraxis zu begegnen. Wird dieses Abstandsgebot wie im vorliegenden Fall eingehalten, ist der sachliche Anwendungsbereich von Art. 7 EMRK we­ gen des präventiven Charakters der Massnahme nicht er­ öffnet. Für sichernde und therapeutische Massnahmen gilt das Rückwirkungsverbot nicht. In der Rechtssache Vasiliauskas 74 ging es um die Frage, ob eine Verurteilung wegen Völkermords auf der Grundlage eines Jahrzehnte nach der Tat geschaffenen Straftatbestan­ des mit Art. 7 EMRK vereinbar war. Der Beschwerdeführer war seit 1952 als hoher Polizeioffizier im litauischen Minis­ terium für Staatssicherheit tätig. In dieser Funktion befeh­ ligte er 1953 eine Operation gegen zwei litauische Partisa­ nen der antikommunistischen Befreiungsbewegung LKKS, die sich gegen die sowjetische Wiederbesetzung und die An­ nexion Litauens als sozialistische Sowjetrepublik auflehnte. Beide widersetzten sich der Festnahme mit Waffengewalt und wurden bei dem Einsatz getötet. Hierfür wurde der Be­ schwerdeführer 1953 belobigt und 2001 wegen Völkermor­ des angeklagt. Konkret lautete die Anklage auf Versuch der Vernichtung eines Teils der litauischen Bevölkerung, der zu einer bestimmten politischen Gruppe gehörte. Diese Tatva­ riante sah der objektive Tatbestand der zwischenzeitlich geschaffenen litauischen Völkermordnorm (Art. 71 Abs. 2 litStGB) ausdrücklich vor. Am 1. 5. 2003 trat dann ein neues Strafgesetz in Kraft, das den Völkermord seither in Art. 99 litStGB unter Strafe stellt. Dieser neue Artikel sah ebenfalls den Tatbestand des Genozids an politischen Gruppen vor. Am 4. 2. 2004 wurde der Beschwerdeführer nach dieser Tat­ variante zu sechs Jahren Freiheitsstrafe verurteilt. Beschränkt man sich auf die technischen Rechtsfragen, scheinen die Dinge klar. Der nationale Tatbestand existierte zur Tatzeit nicht, sodass eine Bestrafung auf dieser Grund­ lage nur dann zulässig gewesen wäre, wenn das Verhalten zum Tatzeitpunkt zumindest nach internationalem Recht strafbar war. Der EGMR fordert zudem, dass diese zur Tat­ zeit einfachrechtlich nicht fixierte Strafbarkeit für den Tä­ ter auch erkennbar gewesen sein muss. 75 Vorliegend fehlt es schon an der ersten Voraussetzung. Die Völkermorddefini­ tion der litauischen Norm reicht weiter als diejenige der Völkermordkonvention und des Völkergewohnheitsrechts. 76 Weder zur Tatzeit noch heute gehören politische Gruppen nach h.M. zu den völkerstrafrechtlich gegen Vernichtung geschützten Gruppen des Völkermordtatbestandes. Auch wenn man den Begründungsgang des EGMR nicht in allen 74 EGMR (GK) v. 20.10.2015, Vasiliauskas v. Lithuania; dazu Vest, Völkermord durch Tötung zweier litauischer Partisanen? Besprechung von EGMR (GC), Urt. v. 20.10.2015 – 35343/05 (Vasiliauskas v. Lithuania), ZIS 2016, 487. 75 EGMR (GK), Vasiliauskas v. Lithuania, §§ 162, 186. 76 Zur völkerrechtlichen Rechtslage Vest, ZIS 2016, 487, 489 ff.

Dieses strikte Vorgehen ist zu begrüssen. Ohne scharfe Konsequenzen lässt sich ein praktischer wirksamer Schutz der Konventionsrechte nicht erreichen. Der Schwerpunkt­ verlagerung der Strafverfolgung auf das Vorverfahren muss durch Strenge bei den Schutzstandards Rechnung getragen werden. 70 Missachtung und Nichtgewährung von Rechten wiegen gerade in dieser Phase besonders schwer und kön­ nen nicht einfach durch Beweiswürdigung oder Strafmilde­ rung bei fortgesetzter Nichtgewährung des Rechts ausge­ glichen werden. Die Zulassung weicher Gegenmassnahmen wie der Beweiswürdigungslösung würde zu einer weiteren Relativierung der Verteidigungsrechte beitragen. Sie müssen daher auch unabhängig von der Existenz bzw. Nichtbeach­ tung spezifischer nationaler Anwesenheitsrechte als unzu­ lässig angesehen werden. Im Blickpunkt der Rechtssache Berland stand die Anord­ nung einer Massnahme, deren Rechtsgrundlage erst im Jahr nach der Tat eingeführt worden war. 71 Der Beschwerdefüh­ rer hatte seine Freundin in schuldunfähigem Zustand getö­ tet. Die Staatsanwaltschaft beantragte daher die zwangs­ weise Aufnahme in eine spezielle geschlossene Einrichtung zur Sicherung und Behandlung der festgestellten psychi­ schen Störung (sowie u. a. ein langjähriges Kontaktverbot zu den Nebenklägern). Der Beschwerdeführer sah darin eine von Art. 7 Ziff. 1 EMRK verbotene rückwirkende Bestra­ fung. Der EGMR hatte daher zu prüfen, ob die verhängte Massnahme eine Strafe i. S. v. Art. 7 EMRK ist. 72 Über die entscheidungserheblichen Aspekte des Einzelfalls hinaus lassen sich seine Ausführungen für alle sichernden und the­ rapeutischen Massnahmen verallgemeinern. Massgeblich für die rechtliche Einordnung sind danach Begründung und (intendierte) Wirkung der Massnahme. Die Begründung darf keine repressivkriminalrechtlichen Konnotationen aufweisen und insbesondere kein sozialethisches Unwert­ urteil aussprechen bzw. implizieren. Nicht verwehrt und in der Regel unerlässlich ist aber das Eingehen auf die Anlass­ tat. 73 Deren materielle Elemente dürfen ebenso wie der Grund der Schuldunfähigkeit rekapituliert werden, soweit ihr Nachweis für die Begründung der Massnahme nötig ist. Zu unterlassen sind dagegen Zuweisungen persönlicher Schuld und persönlicher Tadel. Was die Wirkung betrifft, kommt es neben der Intention des Gesetzgebers und der Ausgestaltung der Rechtsgrundlagen auf die konkrete Durchführung an. Wie die Fälle zur deutschen Sicherungs­ IV. Art. 7 EMRK

70 Erfreulich deutlich Joint Concurring Opinion of Judges Spielmann, Karakas¸, Sajó and Keller, EGMR, Schatschaschwili v. Germany. 71 EGMR v. 3.9.2015, Berland v. France, §§ 8 ff.

72 EGMR, Berland v. France, §§ 37 ff. 73 Vgl. EGMR, Berland v. France, §§ 41 f.

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