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AUFSÄTZE 383
Damit gehen freilich nicht nur die distinkten (Schutz)Ge halte der einzelnen Stufen verloren, sondern sukzessive auch der besondere Charakter der strafrechtlichen Verteidigungs garantien des Art. 6 Ziff. 3 EMRK. 67 Bei den Ausgleichsmechanismen als dritter Teststufe stand die sog. Beweiswürdigungslösung auf dem Prüfstand; d. h., ob bei grundsätzlicher Anerkennung eines reduzierten Beweiswerts das Fehlen einer Konfrontation durch beson ders sorgfältige Beweiswürdigung ausgeglichen werden kann. Hierbei handelt es sich um eine der Rationalisierungs techniken, die der deutsche Bundesgerichtshof mit der Zeit entwickelt hat, um nach Verfahrensverstössen die Verwert barkeit von Beweismitteln zu retten und die scharfe Rechts folge der Unverwertbarkeit zu vermeiden. Für den EGMR steht auf dieser Stufe im Vordergrund, die Verlässlichkeit des Beweismittels zu sichern, ohne damit freilich ein auto nomes dogmatisches Konzept für das Konfrontationsrecht zu entwickeln. Grundsätzlich können auf dieser Stufe Spe zifika und tradierte Rechtsfiguren der nationalen Systeme berücksichtigt werden. Es stellte sich vorliegend freilich von vornherein die Frage, wie die Verlässlichkeit eines Beweis mittels durch besonders gründliche Beweiswürdigung si chergestellt werden können soll. Die Beweiswürdigung kann letztlich nur rekapitulieren, was an Ausgleichsmassnahmen im Verfahren geleistet wurde, aber nicht ihrerseits selbst als Verlässlichkeitstest (anstelle von effektiven Kompensations versuchen im Hauptverfahren) fungieren. Während eine Minderheit unter den Richtern dies jedoch durchaus für plausibel hielt, liess die Mehrheitsmeinung die Frage letzt lich offen, weil im konkreten Fall eine spezielle gesetzliche Vorschrift (§ 168c Abs. 2 dStPO) für die Bewältigung des eingetretenen Risikos bestanden habe und von den natio nalen Behörden im Ermittlungsstadium nicht genutzt wor den sei. Gestattet das Prozessrecht dem Beschuldigten und seinem Verteidiger die Anwesenheit bei Zeugenvernehmun gen im Ermittlungsverfahren, nicht zuletzt, um frühzeitig eine effektive Verteidigung zu ermöglichen, dann müssen diese Optionen auch effektiv eröffnet werden, insbesondere wenn allgemein damit gerechnet werden muss, dass Zeugen später nicht mehr verfügbar sind. Das Versäumnis, beste hende gesetzliche Kompensationsmechanismen zu nutzen, könne insofern nicht durch eine besonders gründliche Be weiswürdigung kompensiert werden. 68 Die Botschaft des EGMR ist klar: Wenn ein Gesetzgeber Regelungen vorsieht, um eine frühzeitige Konfrontation zu ermöglichen, dann müssen diese auch effektiv realisiert werden. Entscheiden sich Behörden dagegen, tragen sie das Risiko des späteren Nichterscheinens. 69
Durch Verwischung der Linie zwischen der Feststellung von ehrenrührigen und allgemein vorwerfbaren Handlungen und der Feststellung tatbestandlichen Handelns wird der spezifische Charakter dieser Beeinträchtigung offenbar übersehen. Dem Gerichtshof ist sicherlich zuzugestehen, dass auch derartige Darlegungen, wie der konkrete Fall selbst zeigt, negative externale Wirkungen haben können. So knüpfte vorliegend ein Familiengericht bei einer Sorge rechtsentscheidung gegen den Beschwerdeführer an die Ur teilsbegründung des Strafgerichts an. 64 Es besteht mithin ein Spannungsverhältnis zwischen exakter und intersubjektiv überzeugender Begründung und den negativen Aussenwir kungen der Formulierungen für Persönlichkeitsrechte des Betroffenen. Betroffen sind damit aber Art. 8 oder Art. 10 EMRK und nicht die Unschuldsvermutung. Das wirkliche Problem lag vorliegend nicht darin, dass staatliche Stellen den Freigesprochenen so behandelt hätten, als habe er die Tat tatsächlich begangen. Vielmehr wurde bei der Entschei dung des Familiengerichts an dargelegte Tatsachen und Ver dachtsmomente angeknüpft, die aus rechtsstaatlichen Grün den im Strafurteil geboten waren (ohne dass sich aus ihnen eine Strafbarkeit ergab). Insofern muss bei Folgeentschei dungen sauber zwischen tatbestandlicher und tatsächlicher Anknüpfung unterschieden werden. Tatsachen dürfen (und müssen aufgrund von Schutzpflichten evtl. sogar) berück sichtigt werden. Die entscheidende Frage in diesen Fällen ist vor allem, ob die strafgerichtlichen Feststellungen bindend sind oder ob Familiengerichte oder Jugendämter sich selbst von deren Richtigkeit zu überzeugen haben, bevor sie sich diese bei ihrer Entscheidung zu eigen machen. Was hier im Einzelnen verfahrenstechnisch erforderlich ist, bemisst sich nach den berührten materiellen Konventionsrechten. Die wohl wichtigste Entscheidung des letzten Jahres im Bereich der Verteidigungsrechte betraf das Konfrontations recht. In der Rechtssache Schatschaschwili 65 entwickelte der EGMR den DreiStufenTest aus dem Urteil Al Khawaja und Tahery weiter und äusserte sich zur Konventionskon formität der sog. Beweiswürdigungslösung als Mittel zur Kompensation einer nicht erfolgten Konfrontation. Auffäl lig ist die nochmalige Flexibilisierung der Teststandards. Es droht ein Aufgehen der einzelnen, anfänglich distinkten Prüfungsstufen in einer Globalprüfung der Gesamtfairness. Konkret hält der EGMR fest, dass das Fehlen eines triftigen Grundes für die Nichtgewährung des Konfrontationsrechts (good reason) isoliert betrachtet nicht ausreichen soll, um eine Konventionsverletzung zu begründen. Auch von der Prüfungsreihenfolge könne nach den Bedürfnissen des Ein zelfalls abgewichen werden, da die einzelnen Stufen letzt lich nur als (nicht abschliessende) Teilelemente einer umfas senden Prüfung der overall fairness zu verstehen seien. 66
67 Vgl. auch Joint Concurring Opinion of Judges Spielmann, Karakas, Sajó and Keller, EGMR, Schatschaschwili v. Germany.
64 EGMR, Cleve v. Germany, § 63. 65 EGMR, Schatschaschwili v. Germany. 66 EGMR, Schatschaschwili v. Germany, § 118.
68 EGMR, Schatschaschwili v. Germany, § 163. 69 Vgl. EGMR, Schatschaschwili v. Germany, § 160.
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