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Italien erhob. Die daraus folgende Verzögerung des Auslie­ ferungsverfahrens erachtete das italienische Hauptverfah­ rensgericht als durch den Beschwerdeführer verursachte Ab­ wesenheit, die dessen Verurteilung in absentia ermöglichte. Ein Antrag auf Wiederholung des Verfahrens in Anwesen­ heit des Beschwerdeführers wurde abgelehnt, da das Aus­ bleiben des Verurteilten laut den nationalen Behörden durch ihn selbst verschuldet war. Gegenstand der Rüge vor dem EGMR war eine Verletzung von Art. 5 Ziff. 1 Lit. a EMRK durch unrechtmässigen Freiheitsentzug. Der Gerichtshof erinnerte zunächst daran, dass das Teil­ nahmerecht des Angeklagten einen unentbehrlichen Teil des fair trial (Art. 6 EMRK) darstellt. Sofern kein wirksamer Verzicht auf die Teilnahmerechte vorliege, sei die Möglich­ keit der Teilnahme in einem (nach der Verurteilung in ab- sentia ) wiederholten Verfahren zu gewährleisten. Das Feh­ len der Teilnahmemöglichkeit sei als flagrant denial of justice einzustufen, weshalb die in einem solchen Verfahren verhängte Freiheitsstrafe nicht als rechtmässig i. S. v. Art. 5 Ziff. 1 lit. a EMRK betrachtet werden könne. 46 Im konkre­ ten Fall merkte der Gerichtshof zudem an, dass die Erhe­ bung eines Rechtsmittels im Auslieferungsverfahren durch die verfolgte Person (und die daraus folgende Verlängerung des Rechtshilfeverfahrens) nicht als selbstverschuldete Ab­ wesenheit oder als konkludenter Verzicht auf das Teilnah­ merecht interpretiert werden kann. 47 Die Bedeutung des Ermittlungsverfahrens wird dem EGMR immer bewusster. 48 Dies zeigt sich im Berichtszeitraum an einer Reihe von Entscheidungen, die den Schutz des Rechts auf Verteidigung in praktisch wegweisenden Situationen in dieser Verfahrensphase fortschreiben. Im Fall A. T. war dem amtlich bestellten Verteidiger vor der Vernehmung des Beschuldigten durch den Untersu­ chungsrichter weder eine Beratung mit seinem Mandanten noch Akteneinsicht gewährt worden. 49 Der EGMR hielt Letzteres für vereinbar mit Art. 6 Ziff. 3 lit. c EMRK, da es in dieser frühen Phase zum Schutz des Interesses an einer effektiven Durchführung der Ermittlungen zu rechtfertigen sei, noch keine Einsicht zu gewähren. Diese Beeinträchti­ gung der Verteidigungsmöglichkeiten sei durch den kurze Zeit später eröffneten Aktenzugang ausgeglichen worden. Dagegen verletze es das Recht auf effektive Verteidigung, wenn das Gericht Verteidigerbestellung und Vernehmung nicht auf eine Weise koordiniert, die es dem Beschuldigten III. Art. 6 EMRK

auseinander. 39 Die Beschwerdeführer, welche sich mit einem Studentenvisum im Vereinigten Königreich aufhielten, wur­ den in Rahmen einer landesweiten, auf den Terrorism Acts 2000 gestützten Aktion zur Abwehr eines unmittelbar dro­ henden Terroranschlags verhaftet und für insgesamt drei­ zehn Tage festgehalten. Die gegen sie erhobenen Vorwürfe wurden ihnen nur in äusserst allgemeiner Form mitgeteilt. Ihre Inhaftierung (sowie deren Verlängerung) wurde mit der Notwendigkeit einer langwierigen Beweisauswertung be­ gründet. Von der Verhandlung über die Haftverlängerung wurden sie und ihre Verteidiger teilweise ausgeschlossen. 40 So durften sie u. a. nicht anwesend sein, als die Notwendig­ keit weiterer Ermittlungshandlungen geprüft wurde. Die Be­ schwerdeführer rügten daher, dass ihnen das Recht auf Teil­ nahme an der Verhandlung teilweise nicht gewährt wurde. Überdies sei ihnen (trotz des partiellen Ausschlusses ihrer Verteidiger) kein Sonderbeistand bestellt worden. 41 Der Gerichtshof stellte klar, dass Art. 5 EMRK nicht auf eine Weise ausgelegt werden darf, die den Behörden eine effiziente Bekämpfung des Terrorismus wesentlich erschwe­ ren oder verunmöglichen würde; 42 das gilt insb. im Ange­ sicht unmittelbar bevorstehender Anschläge. Nur die Ab­ wesenheit der Verdächtigen habe es dem nationalen Gericht erlaubt, die relevanten Informationen und Beweise in der Verhandlung gründlich zu prüfen, ohne gleichzeitig die Durchführung der Ermittlung zu gefährden. Für den Schutz des Rechts auf Freiheit war laut EGMR mit der vorgesehe­ nen gerichtlichen Kontrolle ausreichend gesorgt. In deren Rahmen sei u. a. überprüft worden, ob ausreichende Gründe bestanden, um den Verdächtigen Beweismittel vorzuenthal­ ten. 43 Auch sah der Gerichtshof in der Einschränkung der Teilnahmerechte der Verhafteten und ihrer Verteidiger kei­ nen Grund für die Bestellung einer Ersatzverteidigung. 44 Vielmehr reiche die nach nationalem Recht mögliche Er­ nennung eines besonderen Verteidigers aus. Die Beschwer­ deführer hatten jedoch keine solche Bestellung beantragt. Verallgemeinernd ist zu vermuten, dass es für die Bewer­ tung von Einschränkungen regelmässig auf den Einzelfall ankommen wird, wobei der Grad der Terrorgefahr und die konkret verfügbaren Informationen (inkl. ihrer Quellen) eine erhebliche Rolle spielen werden. Eine weitere, das Anwesenheitsrecht betreffende Ent­ scheidung ist der Fall Baratta v. Italy, 45 in welchem der Be­ schwerdeführer Rechtsmittel gegen seine Auslieferung nach 39 EGMR v. 20.10.2015, Sher and Others v. The United Kingdom. 40 EGMR, Sher and Others v. The United Kingdom, § 74. 41 Zu einem weiteren Problem, ob die Beschwerdeführer über den gegen sie bestehenden Vorwürfen ausreichend informiert wurden, durfte sich der EGMR infolge des nicht ausgeschöpften nationalen Rechts­ wegs nicht äussern (EGMR, Sher and Others v. The United Kingdom, § 139). 42 EGMR, Sher and Others v. The United Kingdom, § 149. 43 EGMR, Sher and Others v. The United Kingdom, § 153. 44 EGMR, Sher and Others v. The United Kingdom, § 154 ff. 45 EGMR v. 13.10.2015, Baratta v. Italy.

46 EGMR v. 24.3.2005, Stoichkov v. Bulgaria, §§ 51 ff.; EGMR, Bar- atta v. Italy, § 114. 47 EGMR, Baratta v. Italy, § 116. 48 EGMR v. 15.12.2015, Schatschaschwili v. Germany, § 104. 49 EGMR v. 9.4.2015, A.T. v. Luxembourg.

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