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AUFSÄTZE 379

dem Patienten eine möglichst gleichwertige Behandlung zur Verfügung zu stellen. Um die EMRKKonformität des Freiheitsentzugs ging es auch im Urteil Messina. 28 Der wegen mehrerer Delikte verurteilte Beschwerdeführer beantragte in Bezug auf die verhängten Freiheitsstrafen die Gewährung einer gesetzlich vorgesehenen Strafreduktion. Für eine dieser Freiheitsstra­ fen wurde die Strafreduktion mit der Begründung verwei­ gert, der Gefangene habe während der relevanten Zeit eine neuerliche Straftat begangen. Wie sich später ergab, beruhte diese Feststellung auf einem falschen Strafregistereintrag. Nach Feststellung des Fehlers wurde dem Beschwerdefüh­ rer die Strafreduktion gewährt. Insgesamt dauerte aber der Freiheitsentzug ca. acht Monate länger, als wenn über die Strafreduktion von Anfang an anhand der richtigen Anga­ ben entschieden worden wäre. 29 Gemäss dem Vorbringen des Beschwerdeführers war der Freiheitsentzug deshalb ab dem Zeitpunkt der (korrekten) hypothetischen Entlassung EMRKwidrig. Der Gerichtshof wiederholte in der Entscheidung Mes- sina, dass der Art. 5 EMRK grundsätzlich keinen Anspruch auf frühzeitige Entlassung oder Amnestie gewährleistet. 30 Eine Ausnahme besteht in Fällen, in denen ein obligatori­ scher gesetzlicher Grund für eine Strafreduktion vorgesehen ist und dem Staat somit bei der Entscheidung über die Straf­ reduktion kein Ermessensspielraum zukommt. 31 Im vorlie­ genden Fall war der gesetzliche Anspruch auf frühere Ent­ lassung an die Bedingung geknüpft, dass der Gefangene tatsächlich (d. h. nicht nur fiktiv, für «Alibi»Zwecke) an Resozialisierungsprogrammen teilgenommen hatte. Bei Er­ füllung dieser Voraussetzung besteht kein Ermessensspiel­ raum und die frühzeitige Entlassung ist zu gewähren. Der Gerichtshof stufte deswegen den die Fortdauer der Haft nach der Überschreitung des (korrekten) hypotheti­ schen Entlassungszeitpunkts als unrechtmässigen Freiheits­ entzug i. S. v. Art. 5 Ziff. 1 EMRK ein. 32 Die Entscheidung des EGMR ruft in Erinnerung, dass während des Entlas­ sungsverfahrens das Beschleunigungsgebot eine besondere Rolle spielt. Zwar lassen sich gelegentliche Fehler (wie im vorliegenden Fall der fehlerhafte Strafregistereintrag) nicht vermeiden; deren Behebung im Laufe des Rechtsmittelver­ fahrens sollte jedoch möglichst vor dem hypothetischen Ent­ lassungsdatum erfolgen, um unrechtmässigen Freiheitsent­ zug zu vermeiden. Präventiver Freiheitsentzug In der auf einem etwas untypischen Sachverhalt beruhen­ den Entscheidung Lecomte 33 äusserte sich der EGMR zu 2.

den Bedingungen eines präventiven Freiheitsentzugs. 34 Eine für ihre KletterProtestaktionen bekannte Umweltaktivistin war nach ihrer Festnahme durch die Polizei in Präventivhaft genommen worden, da laut den Polizeibehörden eine grosse Wahrscheinlichkeit dafür bestand, dass sie durch Erklettern einer Brücke versuchen würde, einen Transport mit radio­ aktivem Abfall zu behindern. 35 Nach ca. drei Tagen wurde sie entlassen, da ärztlich festgestellt wurde, dass sie infolge ihres aktuellen Gesundheitszustandes zu einer solchen Kletteraktion gar nicht fähig war. Die Beschwerdeführerin beanstandete eine Beeinträchtigung ihrer Rechte aus Art. 5 und Art. 3 EMRK und brachte u. a. vor, dass die Zelle, in der sie untergebracht war, nicht genügend Tageslicht einliess und dass ihr weder ausreichende Bewegungsmöglichkeit noch genügende Angebote für andere Aktivitäten gewährt worden waren. 36 Der EGMR verneinte im konkreten Fall eine unmensch­ liche Behandlung mit Blick auf die relativ kurze Haftdauer, obwohl gewisse Mängel in Bezug auf die Haftbedingungen feststellbar waren (v. a. geringer Zugang zu Tageslicht in der Zelle und zeitweises Fehlen sinnvoller Beschäftigungsmög­ lichkeiten 37 ). Der Gerichtshof schloss sich insofern der Mei­ nung des Europäischen Komitees zur Verhütung von Folter (CPT) an, wonach für die Haftbedingungen bei kürzerem Freiheitsentzug weniger strenge Massstäbe gelten. 38 Es wurde unterstrichen, dass sich die Behörden erfolgreich da­ rum bemüht hatten, die Bedingungen der präventiven Haft unter vielen Aspekten wenig belastend zu gestalten (gestat­ tet wurden u. a. das Mitnehmen von persönlicher Kleidung und Medikamenten, mehrere begleitete Spaziergänge trotz des unkooperativen Verhaltens der Gefangenen sowie ra­ sche medizinische Versorgung bei Gesundheitsbeschwer­ den). Aus der Entscheidung ergeben sich jedoch keine kon­ kreten Abgrenzungskriterien in Bezug auf ausreichende bzw. nicht ausreichende Bemühungen des Staates bei kurzer Präventivhaft. Aus der allgemein gehaltenen Feststellung, dass für eine relativ kurze Freiheitsentziehung andere An­ forderungen gelten als für eine längerfristige, lassen sich keine konkreten Kriterien der Rechtmässigkeit ableiten; stattdessen wird jeweils anhand der Umstände des konkre­ ten Falles zu entscheiden sein. Mit den Informationsund Teilnahmerechten (Art. 5 Ziff. 4 EMRK) setzte sich der Gerichtshof in Sher and Others 34 Der EGMR hatte infolge der Überschreitung der Beschwerdefrist keine Möglichkeit, sich zur Begründetheit der Präventivhaft als solcher zu äussern. Dies ist zu bedauern, da einer Untersuchung der Verhältnis­ mässigkeit und der Notwendigkeit der Freiheitsentziehung (v.a. der zur Verfügung stehenden alternativen Massnahmen) angesichts der zunehmenden Beliebtheit solcher Massnahmen eine wichtige Leitfunk­ tion hätte zukommen können.

28 EGMR v. 24.3.2015, Messina v. Italy. 29 EGMR, Messina v. Italy, § 43. 30 EGMR, Messina v. Italy, § 45. 31 EGMR, Messina v. Italy, § 45. 32 EGMR, Messina v. Italy, § 49. 33 EGMR v. 6.10.2015, Lecomte v. Germany.

35 EGMR, Lecomte v. Germany, §§ 16 ff. 36 EGMR, Lecomte v. Germany, §§ 76 ff. 37 EGMR, Lecomte v. Germany, §§ 100, 111. 38 EGMR, Lecomte v. Germany, § 111.

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