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AUFSÄTZE 373

bung von Randdaten in Echtzeit und der rückwirkenden Randdatenerhebung. Gesetzliche Regelung und Voraus­ setzungen der Überwachung von Drittanschlüssen, insbe­ sondere der Randdatenerhebung bei Geschädigten): Im vorliegenden Fall waren die Voraussetzungen einer rück­ wirkenden Randdatenerhebung betreffend den Mobiltele­ fonanschluss eines Privatklägers nicht erfüllt, zumal die Überwachung bloss indirekt der Aufklärung der untersuch­ ten Straftaten diente. Die gesetzlichen Voraussetzungen ei­ ner strafprozessualen Randdatenerhebung bei Dritten, ins­ besondere das richterliche Genehmigungserfordernis, sind grundsätzlich auch dann zu beachten, wenn die verfahrens­ leitende Staatsanwaltschaft sich um eine Zustimmung des Inhabers des überwachten Fernmeldeanschlusses bemüht hat. Es empfiehlt sich, dass die Staatsanwaltschaft eine all­ fällige schriftliche Zustimmung des betroffenen Dritten zu­ sammen mit dem Genehmigungsgesuch beim Zwangsmass­ nahmengericht einreicht. 49 Art. 17 Abs. 1 und Art. 311 Abs. 1 Satz 2 StPO (Zustän­ digkeit für den Erlass von Übertretungsstrafbefehlen): Art. 17 Abs. 1 und Art. 311 Abs. 1 Satz 2 StPO richten sich an den kantonalen Gesetzgeber. Hat ein Kanton von der in Art. 17 Abs. 1 und Art. 311 Abs. 1 Satz 2 StPO vorgesehe­ nen Möglichkeit keinen Gebrauch gemacht, gelangen für die Verfolgung und Beurteilung von Übertretungen die ge­ wöhnlichen Bestimmungen der StPO zur Anwendung, d. h., für die Beweiserhebung und den Erlass des Strafbefehls ist der mit dem Fall befasste Staatsanwalt zuständig. Die Kan­ tone können den Erlass von Übertretungsstrafbefehlen in analoger Anwendung von Art. 17 Abs. 1 StPO an Untersu­ chungsbeauftragte der Staatsanwaltschaft delegieren. Eine kantonale Regelung, wonach bei Übertretungen innerhalb der Staatsanwaltschaft nicht die Staatsanwälte, sondern an­ dere Mitarbeiter für den Erlass von Strafbefehlen zuständig sind, verstösst nicht gegen übergeordnetes Recht. Erforder­ lich ist jedoch ein gültiger kantonaler Erlass, der dies expli­ zit vorsieht. 50 Art. 343 Abs. 3 i. V.m. 405 Abs. 1 StPO (Unmittelbare Kenntnis von Beweismitteln im Berufungsverfahren): Nach Art. 343 Abs. 3 i. V.m. Art. 405 Abs. 1 StPO hat eine un­ mittelbare Beweisabnahme im Rechtsmittelverfahren unter anderem dann zu erfolgen, wenn die unmittelbare Kenntnis des Beweismittels für die Urteilsfällung notwendig er­ scheint. Dies ist namentlich der Fall, wenn die Beweiskraft des Beweismittels in entscheidender Weise vom Eindruck abhängt, der bei seiner Präsentation entsteht, beispielsweise wenn es in besonderem Masse auf den unmittelbaren Ein­ druck einer Zeugenaussage ankommt, so etwa bei Aussage gegen Aussage. Das Gericht verfügt bei der Frage, ob eine erneute Beweisabnahme erforderlich ist, über einen Ermes­

sensspielraum. 51 Ist die unmittelbare Kenntnis des Beweis­ mittels für die Urteilsfällung notwendig, gilt dies sowohl für das erstinstanzliche als auch für das Berufungsverfah­ ren, denn die Beweiserhebung durch das Erstgericht kann die erforderliche unmittelbare Kenntnis des Berufungsge­ richts nicht ersetzen 52 . 53 Art. 347 Abs. 1 StPO (Verwertbarkeit des «letzten Wor­ tes»): Die Vorinstanz stützt sich auf eine in der Literatur vertretene Meinung, wonach beweisrelevante Äusserungen oder Geständnisse im Rahmen des letzten Wortes prozes­ sual nicht verwertbar seien, aber zur Beweisergänzung ge­ stützt auf Art. 349 StPO führen können. 54 Zur Begründung verweisen die Autoren auf die Urteile 6B_805/2011 vom 12. 7. 2012 und 6P.11/2001 vom 18. 9. 2001, in welchen das Bundesgericht erwägt, dass das letzte Wort dem Angeklag­ ten ermögliche, nach formellem Abschluss des Beweisver­ fahrens zur Anklage Stellung zu nehmen. Das Gericht solle unter dem Eindruck des Schlusswortes in die Beratung ge­ hen. Neue Beweisanträge soll der Angeklagte in diesem Ver­ fahrensabschnitt jedoch grundsätzlich nicht mehr stellen können. 55 Diese Entscheide sind in Anwendung des damals noch kantonalen Prozessrechts ergangen. Ihnen ist nicht zu entnehmen, dass Aussagen im Rahmen des Schlusswortes nicht verwertbar sein sollen. Auch sind keine Gründe er­ sichtlich, inwiefern dies der Fall sein soll. Nicht zu hören ist die Beschwerdeführerin, wenn sie geltend macht, die Privatklägerschaft oder die Staatsanwaltschaft könne zu diesem Zeitpunkt zu den Aussagen der angeklagten Person nicht mehr Stellung nehmen. Es ist Aufgabe des urteilenden Gerichts, den Parteien das rechtliche Gehör zu gewähren, und die Beschwerdeführerin legt nicht dar, inwiefern dieses im vorliegenden Fall verletzt worden sei. Der Beschwerde­ gegner hat im Rahmen seines Schlusswortes keine Beweis­ anträge gestellt, weshalb die Frage offenbleiben kann, ob solche unter der Herrschaft der am 1. 1. 2011 in Kraft ge­ tretenen Schweizerischen Strafprozessordnung zulässig sind. 56 Art. 354 Abs. 3 StPO; Art. 97 Abs. 3 StGB (Strafbefehl; Verjährung): Ein Strafbefehl, gegen welchen Einsprache er­ hoben wurde, ist kein erstinstanzliches Urteil im Sinne von Art. 97 Abs. 3 StGB, nach dessen Ausfällung die Verjäh­ rung nicht mehr eintritt. 57

51 BGE 140 IV 196 E. 4.4.2 mit Hinweisen. 52 Urteil 6B_70/2015 v. 20.4.2016, E. 1.4.2. 53 Urteil 6B_1319/2016 v. 26.5.2016.

54 Gut/Fingerhuth, in: Donatsch/Hansjakob/Lieber, Kommentar zur Schweizerischen Strafprozessordnung, 2. Aufl. 2014, N. 3 zu Art. 347 StPO. 55 Urteile 6B_805/2011 v. 12.7.2012, E. 4.3.2; 6P.11/2001 v. 18.9.2001, E. 2b/bb. 56 Urteil 6B_1319/2016 v. 26.5.2016. 57 BGE 142 IV 11.

49 BGE 142 IV 34. 50 BGE 142 IV 70.

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