forumpoenale_6_2016.pdf

AUFSÄTZE 371

sächlich ausgesprochen oder angeordnet hat. 19 Es muss sich mit andern Worten um einen Fehler im Ausdruck und nicht in der Willensbildung des Gerichts handeln. Eine Entschei­ dung, die so gewollt war, wie sie ausgesprochen wurde, die aber auf einer irrtümlichen Sachverhaltsfeststellung oder auf einem Rechtsfehler beruht, kann nicht berichtigt wer­ den 20 . 21 Art. 113 Abs. 1 Sätze 1–2 StPO, 265 Abs. 2 lit. a und Abs. 3 StPO (Zwangsmassnahmen und Verweigerung der Mitwirkung; Verhältnis): Zwar können beschuldigte Per­ sonen weder zu einer Aussage noch zur Edition von Beweis­ unterlagen unter Strafandrohung verpflichtet werden (Selbstbelastungsprivileg). Keiner strafbewehrten Pflicht zur (eigenhändigen) Herausgabe unterliegen auch andere Personen, die zur Aussageund Zeugnisverweigerung be­ rechtigt sind (Art. 265 Abs. 2 lit. b StPO) sowie (auch noch nicht beschuldigte) Unternehmen, wenn sie sich durch eine Edition selbst derart belasten würden, dass sie strafrecht­ lich oder zivilrechtlich verantwortlich gemacht werden könnten. 22 Dies bedeutet jedoch nicht, dass die genannten Personen und Unternehmen eine Duldung der gesetzlich vorgesehenen Zwangsmassnahmen abwenden könnten, die zur Aufklärung von Straftaten notwendig erscheinen. 23 Ins­ besondere kann die Staatsanwaltschaft nötigenfalls (anstelle einer Edition) die zwangsweise Sicherstellung, Entsiegelung und förmliche Beschlagnahmung von Beweisunterlagen an­ ordnen 24 . 25 Art. 9 BV; Art. 354 Abs. 1, 353 Abs. 3 und 85 Abs. 2 StPO (Zustellung eines Strafbefehls mittels einfacher Post­ sendung; Beweislast der Zustellung): Stellt die Strafbehörde einen Strafbefehl entgegen der gesetzlichen Zustellungsmo­ dalitäten gemäss Art. 85 Abs. 2 StPOmittels einfacher Post­ sendung zu, trägt sie die Beweislast für die erfolgte Zustel­ lung und deren Datum. Der Nachweis des für den Fristenlauf zur Einsprache massgebenden Empfangsdatums des Adres­ saten kann nicht durch den Hinweis auf die übliche Beför­ derungsdauer bei Postsendungen erbracht werden. 26 Art. 116 Abs. 2 StPO (Dem Opfer in ähnlicher Weise nahe stehende Personen): Unter dem Opfer nach Art. 116 Abs. 2 StPO in ähnlicher Weise nahestehende Personen sind solche des nahen Umfelds gemeint, die nicht notwendig durch verwandtschaftliche Beziehungen verbunden sind. 19 Urteil 6B_727/2012 v. 11.3.2013, E. 4.2.1. 20 Stohner, in: Basler Kommentar, Schweizerische Strafprozessord­ nung, 2. Aufl. 2014, N. 3 zu Art. 83 StPO; Brüschweiler, in: Kommentar zur Schweizerischen Strafprozessordnung, 2. Aufl. 2014, N. 3 zu Art. 83 StPO. 21 Urteil 6B_115/2016 v. 25.5.2016. 22 Vgl. Art. 265 Abs. 2 lit. c StPO. 23 Art. 113 Abs. 1 Satz 3 und Abs. 2 StPO; vgl. Botschaft StPO, BBl 2006 1085 ff., 1245 Ziff. 2.5.7. 24 Art. 113 i.V.m. Art. 197, Art. 248, Art. 263 f. und Art. 265 Abs. 4 StPO; vgl. auch Art. 7 Abs. 2 GwG. 25 Urteil 1B_249/2016 v. 30.5.2016. 26 BGE 142 IV 125.

Massgebend sind die sich aus den konkreten Lebensverhält­ nissen ergebenden faktischen Bindungen, so zum Beispiel beim Konkubinat, aber unter Umständen auch bei beson­ ders engen Freundschaften sowie dem Opfer besonders na­ hestehenden Geschwistern. 27 Ausschlaggebend ist die In­ tensität der Bindung zum Opfer. 28 Diese ist danach zu prüfen, ob sie in ihrer Qualität jener in Art. 116 Abs. 2 StPO ausdrücklich erwähnten entspricht. 29 Bei Neffen und Nich­ ten kommt es in erster Linie darauf an, ob sie dem Onkel oder der Tante in ähnlicher Weise nahestehen wie deren Kinder. So verhält es sich namentlich, wenn der Onkel oder die Tante einen Elternersatz darstellt und den Neffen oder die Nichte grosszieht, weil die Eltern verstorben oder nicht in der Lage sind, sich um ihre Kinder zu kümmern. Dabei handelt es sich um Ausnahmefälle. Art. 116 Abs. 2 StPO anerkennt nicht einmal Geschwister ohne Weiteres als An­ gehörige. Damit Neffen und Nichten als solche gelten kön­ nen, müssen somit umso mehr besondere Verhältnisse vor­ liegen, da man zu Onkeln und Tanten in der Regel einen weniger engen Kontakt hat. Ob eine Person dem Opfer im Sinne von Art. 116 Abs. 2 StPO in ähnlicher Weise nahe­ steht, ist aufgrund der Umstände zu beurteilen. Dabei geht es um eine Wertungsfrage, die – da die Übergänge fliessend sind – gegebenenfalls heikel zu beantworten sein kann. Der sachnäheren kantonalen Behörde steht insoweit ein Beur­ teilungsspielraum zu 30 . 31 Art. 121 StPO (Wirkungen der Rechtsnachfolge; Legi­ timation der Angehörigen): Die Angehörigen einer verstor­ benen geschädigten Person sind in der Reihenfolge der Erb­ berechtigung kumulativ oder alternativ zur Zivilund Strafklage berechtigt. Im Unterschied zum Zivilpunkt ist im Strafpunkt kein gemeinsames Vorgehen der Erben erfor­ derlich. Der Angehörige einer verstorbenen geschädigten Person kann sich im Strafverfahren allein als Privatkläger im Strafpunkt konstituieren. 32 Art. 140 und 141 StPO (Feststellung der Unverwertbar­ keit von Beweismitteln; Zeitpunkt; rechtlich geschütztes Interesse): Ein Entscheid über die Verwertbarkeit von Be­ weismitteln schliesst das Strafverfahren nicht ab. Es handelt sich um einen Zwischenentscheid. Dagegen ist die Be­ schwerde in Strafsachen unter den Voraussetzungen von Art. 93 Abs. 1 lit. a BGG zulässig. Erforderlich ist somit ein nicht wiedergutzumachender Nachteil. Die Anwendung von Art. 93 Abs. 1 lit. b BGG kommt vorliegend nicht in Be­ 27 Mazzucchelli/Postizzi, in: Basler Kommentar zur Schweizeri­ schen Strafprozessordnung, 2. Aufl., 2014, N. 17 zu Art. 116 StPO. 28 GuyEcabert, in: Commentaire romand, Code de procédure pénale suisse, 2011, N. 14 zu Art. 116 StPO. 29 Zehntner, in: Kommentar zum Opferhilfegesetz, 3. Aufl., 2009, N. 51 zu Art. 1 OHG. 30 Vgl. zum Ganzen Urteil 1B_137/2015 v. 1.9.2015, E. 2.1 mit Hinwei­ sen. 31 Urteil 6B_81/2016 v. 2.6.2016. 32 BGE 142 IV 82.

6/2016 forum poenale

Stämpfli Verlag

Made with