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AUFSÄTZE 353

III. Die Rolle der Polizei

geht an die Staatsanwaltschaft über. 39 Selbstständige poli­ zeiliche Ermittlungen, die zu einem Zeitpunkt durchgeführt werden, in welchem bereits eine Untersuchung eröffnet wor­ den ist oder hätte eröffnet werden müssen, tangieren die Parteirechte der Verfahrensbeteiligten und können zu Ver­ wertungsproblemen der erhobenen Beweise führen. 40 Der dringende Tatverdacht Gewisse Zwangsmassnahmen setzen, weil sie stärker in die Freiheitsrechte eingreifen als andere, einen dringenden Tat­ verdacht voraus. 41 Von dringendem Tatverdacht ist bei erheblicher Wahr- scheinlichkeit für einen späteren Schuldspruch auszuge­ hen. 42 d) Abgrenzungen zwischen den Verdachtsstufen Die Grenzen zwischen Anfangsverdacht, hinreichendem und dringendem Tatverdacht sind nicht messerscharf. Zwar wird in der Praxis häufig geltend gemacht, die von den Er­ mittlungsbehörden präsentierten Anhaltspunkte reichten nicht aus für einen hinreichenden bzw. dringenden Tatver­ dacht, doch räumen die Gerichte den Behörden einen erheb­ lichen Ermessensspielraum ein. 43 Da es sich beim Verdachtsgrad um einen dynamischen Begriff handelt, ändern sich die Anforderungen an den Ver­ dacht im Verlaufe des Verfahrens. Sie werden mit der Dauer der Massnahmen graduell angehoben. «Die Verdachtslage hat sich mit zunehmender Verfahrensdauer grundsätzlich zu konkretisieren und zu verstärken.» 44 Ansonsten ist die Zwangsmassnahme aufzuheben. 45 Zwangsmassnahmen ohne Tatverdacht? Nimmt man den Verdacht als Legitimation bzw. als zwin­ gendes rechtsstaatliches Erfordernis eines Eingriffs in die Grundrechte durch Zwangsmassnahmen, so überrascht, dass das Gesetz in engen Grenzen auch verdachtsfreie Er­ mittlungshandlungen zulässt. 46 Zu erwähnen sind etwa DNAMassenuntersuchungen nach Art. 256 StPO, soge­ nannte Antennensuchläufe 47 , die Aufbewahrung und Ver­ wendung erkennungsdienstlicher Unterlagen nach Art. 261 Abs. 1 lit. b StPO oder etwa die Haft wegen Ausführungs­ gefahr nach Art. 221 Abs. 2 StPO. c) 6. 39 Omlin, BSK StPO (Fn. 6), Art. 309 N 11; Hürlimann (Fn. 5), 193. 40 Landshut/Bosshard, ZK StPO (Fn. 15), 309 N 2 f. 41 So etwa die Untersuchungshaft (Art. 221 Abs. 1 StPO) oder gewisse Überwachungsmassnahmen (Art. 269 Abs. 1 lit. a StPO, Art. 271 Abs. 2 lit. a StPO und Art. 273 Abs. 1 StPO). 42 Landshut/Bosshard, ZK StPO (Fn. 15), Art. 309 N 27. 43 Omlin, BSK StPO (Fn. 6), Art. 309 N 31. 44 BStrGer, Urteil v. 30.4.2015, BH.2015.3/BP.2015.14 , E. 4.1. 45 Pieth, Schweizerisches Strafprozessrecht, 2. Aufl., Basel 2012, 118; siehe auch BGer, Urteil v. 8.6.2016, 1B_63/2016, E. 3.3. 46 Zum Ganzen auch Walder/Hansjakob (Fn. 7), 119 ff. 47 Vgl. Art. 16 lit. e VÜPF.

1. Die Aufgaben der Polizei Eine zentrale Rolle bei der Verdachtsgewinnung und ver­ dichtung kommt der Polizei zu. Ihre Rolle ist delikat, weil sie nicht nur repressive Aufgaben wahrnimmt, sondern auch die Aufgabe der Gefahrenabwehr, also der Prävention. Sie muss ihr Handeln teils auf die StPO, teils auf das kantonale Polizeirecht stützen.

2.

Erkenntnisse aus Vorermittlungen und präventiven verdeckten Massnahmen im Speziellen

Da der Zweck der StPO in der Verfolgung strafbaren Ver­ haltens liegt, sind die auf die StPO gestützten, im Rahmen von Zwangsmassnahmen erhobenen Ermittlungsergebnisse grundsätzlich verwertbar. Das Gesetz bietet, unter Vorbe­ halt der Regeln der Beweisverwertungsproblematik, Grund­ lage sowohl für die Beweiserhebung als auch für die Beweis­ verwertung. 48 Gemäss Bundesgericht ermöglichen Vorermittlungen der Polizei «das Erkennen, dass bestimmte Straftaten begangen worden sind oder gestützt auf einen bereits gefassten Ta­ tentschluss kurz vor der Ausführung stehen könnten». 49 In der StPO findet sich keine gesetzliche Grundlage für Vor­ ermittlungen ohne Anfangsverdacht. Die Grundlagen sind vielmehr in der kantonalen Polizeigesetzgebung zu finden. Dasselbe gilt für präventive verdeckte Massnahmen. Auch diese haben, weil (noch) kein entsprechender Tatverdacht besteht, im Rahmen polizeilicher Vorermittlungen stattzu­ finden. Sowohl Schrifttum 50 als auch Rechtsprechung 51 gehen von einer Verwertbarkeit von Erkenntnissen aus Vorermitt­ lungen in einem nachfolgenden Strafverfahren aus, wenn die Massnahmen, aus denen sie vorgegangen sind, (a) auf einer gesetzlichen Grundlage beruhen, (b) im öffentlichen Interesse der Gefahrenabwehr liegen und (c) auch in einem Strafverfahren hätten angeordnet werden können. Aus­ schlaggebend ist, dass das Beweisausforschungsverbot nicht umgangen wird.

3.

Erkenntnisse aus doppelfunktionaler Aufgabenerfüllung der Polizei

Wenn es gleichzeitig um Gefahrenabwehr (Verhinderung der Begehung oder Fortsetzung einer Straftat) und um Auf­ klärung einer Straftat geht, spricht man von doppelfunkti­ onaler Aufgabenerfüllung. 52 Wenn die Polizei zum Beispiel

48 Ackermann/Vogler (Fn. 25), 175. 49 BGer, Urteil v. 1.10.2014, 1C_653/2012, E. 6.1. 50 Gless, BSK StPO (Fn. 6), Art. 141 N 38; Donatsch/Schwarzeneg­ ger/Wohlers, Strafprozessrecht, 2. Aufl., Zürich 2014, 126. 51 BGer, Urteil v. 25.4.2013, 1C_532/2012, E. 5.5.3. 52 Rhyner, BSK StPO (Fn. 6), Art. 306 N 7.

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