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mit einer Entführung konfrontiert ist, hat sie einerseits die entführte Person aus den Fängen des Missetäters zu befreien (Prävention oder Gefahrenabwehr). Andererseits ist der Ent­ führer der Strafverfolgung zuzuführen (Repression oder Strafverfolgung). Ob die Polizei in solchen Fällen gestützt auf ihre Polizei­ gesetzgebung oder auf die Strafprozessordnung zu handeln hat, ist unklar und umstritten. 53 Wie steht es mit der Verwertbarkeit, wenn die Erkennt­ nisse auf Polizeirecht gestützt erhoben wurden, ohne die Staatsanwaltschaft ins Boot zu holen, z. B. wegen zeitlicher Dringlichkeit? Mit Blick auf die Ausführungen in der vor­ anstehenden Ziffer muss es möglich sein, die nach Polizei­ recht erlangten Erkenntnisse zu verwerten: Diente die Mass­ nahme (a) der Gefahrenabwehr, stützte sie sich (b) auf eine gesetzliche Grundlage und wäre sie (c) auch als strafprozes­ suale Massnahme zulässig, so sind die gewonnenen Er­ kenntnisse verwertbar. Erkenntnisse als Abfallprodukt sicherheits­ oder verwaltungspolizeilicher Tätigkeit Retten die Polizeibeamten eine Katze von einem Baum, neh­ men sie keine gerichtspolizeilichen, sondern sicherheitspo­ lizeiliche Aufgaben wahr und stützen sich dabei auf Poli­ zeirecht. Sind dabei zufällig gewonnene Erkenntnisse in einem späteren Strafverfahren verwertbar? Wie bei den Vorermittlungen fehlt bei polizeipräventiven Interventionen der Anfangsverdacht. Was für die Gerichts­ polizei der Tatverdacht ist, entspricht bei sicherheitspoli­ zeilichen Aufgaben der Gefährdung von Rechtsgütern. 54 Entgegen der Meinung von Vetterli 55 können durch si­ cherheitspolizeiliche Massnahmen erlangte Erkenntnisse in einem Strafverfahren verwendet werden. 56 Vorausgesetzt wird, dass die Handlung, die zur Gewinnung der Erkennt­ nisse geführt hat, auf einer klaren gesetzlichen Grundlage im Sinne eines formellen Gesetzes beruht, die Massnahme dem Subsidiaritätsgrundsatz entspricht, verhältnismässig ist und strafprozessual zulässig gewesen wäre (hypotheti­ scher Ersatzeingriff). In diesem Sinne hat das Bundesgericht jüngst im Entscheid 6B_1143/2015 geurteilt, wo es um die Verwertbarkeit einer Videoaufzeichnung ging, welche die 53 Rhyner, BSK StPO (Fn. 6), Art. 306 N 7; Oberholzer, Grundzüge des Strafprozessrechts, 3. Aufl., Bern 2012, N. 81 f.; Kettiger, Schnittstellenfragen der Schweizerischen Strafprozessordnung, Jus­ letter v. 13.2.2012, 5. 54 Pieth (Fn. 45), 192. 55 Vetterli (Fn. 26), 452, nach ihrer Meinung dürfen Erkenntnisse in einem Strafverfahren nur dann verwertet werden, wenn sie aus einer strafprozessualen Ermittlung stammen. 56 Rhyner, BSK StPO (Fn. 6), Art. 306 N 7a; Schmid, StPO Praxis­ kommentar, 2. Aufl., Zürich/St.Gallen 2013, Art. 196 N 2; Gfeller/ Bigler, Zwangsmassnahmen gemäss StPO versus polizeiliche Zwangsmassnahmen nach PolG/ZH, FP 2014, 105, 109. 4.

Verkehrspolizei in Wahrnehmung ihrer verkehrspolizeili­ chen Aufgaben sicherte. 57

IV. Nachrichtendienstliche Quellen

1.

Einleitende Bemerkungen und Zweck des Nachrichtendienstgesetzes

Die Frage, wie im Strafprozess mit Informationen umzuge­ hen ist, welche auf nachrichtendienstlichem Weg beschafft worden sind, ist nicht nur vor dem Hintergrund des jüngst ergangenen Bundesgerichtsentscheides gegen zwei kurdi­ sche Iraker 58 bzw. dem Urteil des Bundesstrafgerichts vom 18. 3. 2016 gegen drei Iraker brisant. 59 Das Thema war auf­ grund der Diskussion anlässlich der Referendumsabstim­ mung über das Nachrichtendienstgesetz (NDG) 60 auch po­ litisch von grosser Aktualität. Nachrichtendienstliche Tätigkeiten dienen der frühzei­ tigen Identifizierung von Bedrohungen bzw. Gefährdungen der inneren oder äusseren Sicherheit der Schweiz (Terroris­ mus, verbotener Nachrichtendienst, Weiterverbreitung nu­ klearer, chemischer oder biologischer Waffen […], Angriffe auf Informations, Kommunikations, Energie, Transport­ und weitere Infrastrukturen, gewalttätiger Extremismus). 61 Der Staatsschutz bietet ein Frühwarnsystem vor spezifi­ schen Risiken für die Existenz des Staates und für die de­ mokratische und rechtsstaatliche Ordnung. 62 Der fehlende Tatverdacht Während strafprozessuale Zwangsmassnahmen einen be­ stehenden Tatverdacht erhärten oder ausräumen und po­ lizeiliche Vorermittlungen Anhaltspunkte zur Erkennung eines Tatverdachtes liefern sollen, geht es bei nachrichten­ dienstlichen Massnahmen um die Erkennung einer Bedro- hung. 63 Tatsächliche, wahrnehmbare Anhaltspunkte, wie sie der Tatverdacht fordert, sind nicht verlangt. 64 Damit ent­ fällt ein wesentliches Element, das bei der Verdachtsbildung als Abgrenzungskriterium zu Vermutungen und Gerüchten dient. Weil durch nachrichtendienstliche Tätigkeiten nach Bedrohungen gesucht werden soll, sind «fishing expedi­ tions» «nicht nur erlaubt, sondern geradezu geboten». 65 2.

57 BGer, Urteil v. 6.6.2016, 6B_1143/2015, E. 1.3.1. 58 BGer, Urteil v. 27.1.2016, 6B_57/2015 (und 6B_81/2015). 59 BStrGer, Urteil v. 18.3.2016, SK.2015.45, schriftliche Begründung noch ausstehend. 60 Gesetzestext gemäss Referendumsvorlage, BBl 2015 7211. 61 Art. 6 Abs. 1 lit. a NDG; siehe auch Ackermann/Vogler (Fn. 25), 169. 62 Pieth (Fn. 45), 192.

63 Ackermann/Vogler (Fn. 25), 163. 64 Ackermann/Vogler (Fn. 25), 170. 65 Ackermann/Vogler (Fn. 25), 169.

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