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den als Gemengelagen bezeichnet. 3 Für die Polizei ist es all­ täglich, abwechselnd oder gleichzeitig Massnahmen zur Ge­ fahrenabwehr und zur Strafverfolgung zu treffen, wie die nachfolgenden Beispiele zeigen: – So muss die Polizei bei einem Verkehrsunfall Gefah­ ren abwehren (Unfallstelle sichern und Verletzte ret­ ten), aber auch den Sachverhalt für das Strafverfahren feststellen (Beweise sichern, Beteiligte sowie Zeugen ermitteln und einvernehmen). – Im Zusammenhang mit Demonstrationen oder Sport­ veranstaltungen kommt es ebenfalls häufig zu einer Überlagerung von Gefahrenabwehr und Strafver­ folgung: 4 So muss die Polizei für die Sicherheit der an­ wesenden Personen sowie von Sachen sorgen. Gleich­ zeitig hat sie ihre Aufgabe als Strafverfolgungsbehörde wahrzunehmen, wenn es zu strafbaren Handlungen kommt (z. B. Sachbeschädigungen oder Körperverlet­ zungen). – Auch bei Interventionen wegen häuslicher Gewalt übt die Polizei häufig beide Aufgaben aus: Sie muss die Gewaltausübung stoppen sowie präventive Schutz­ massnahmen (z. B. Fernhaltemassnahmen) anord­ nen. Zum anderen ist der Sachverhalt strafprozessual zu ermitteln und allfällige Beweise sind sicherzu­ stellen. In den eben erwähnten Konstellationen kommt es bei der Zusammenarbeit zwischen Polizei und Staatsanwalt­ schaft allerdings sehr selten zu Unsicherheiten über die Zu­ ständigkeiten, da die Staatsanwaltschaft in der Regel erst nach der Bereinigung der Gefahr über den Vorfall orientiert wird bzw. sich mit der Angelegenheit befasst. Anders ist dies in Fällen, in welchen die Staatsanwaltschaft bereits in­ volviert ist, wenn die Gefahr noch besteht und diese nicht durch unmittelbares Eingreifen der Polizei abgewehrt wer­ den kann, sondern dazu Ermittlungen erforderlich sind, wie in den eingangs genannten Fällen von Entführungen, Er­ pressungen oder Drohungen.

zuständig. Diese Doppelfunktionalität führt dazu, dass die Polizei «Dienerin zweier Herren» ist: Je nach Aufga­ benbereich untersteht sie den Weisungen der Regierung oder der Staatsanwaltschaft. 5 Diese besondere kompeten­ zielle Ausgangslage kann in Gemengelagen zu Unsicherhei­ ten führen. Zur Unsicherheit bezüglich der Verantwortungsbereiche von Polizei und Staatsanwaltschaft in Gemengelagen trägt auch bei, dass der Fokus von Gesellschaft und Politik seit den Anschlägen vom 11. September 2001 zunehmend auf Sicherheit und Prävention gerichtet ist. 6 Eine Gewichtung, welche sich durch die in den vergangenen Monaten mitten in Europa verübten terroristischen Anschläge noch akzen­ tuiert hat. Der auf Prävention gestellte Fokus zeigt sich nicht nur im Zusammenhang mit terroristischen Bedrohungen: Als Reaktion auf Attentate und Gewaltakte, welche aus Wut (z. B. auf Behörden) oder infolge einer Kränkung oder anderen persönlichen Motiven verübt wurden, haben viele Kantone in den vergangenen Jahren Prozesse und Struktu­ ren geschaffen, um «gefährliche Personen» 7 frühzeitig zu erkennen und mittels verschiedener Massnahmen sicherzu­ stellen, dass von diesen Personen keine Gefahr für die Ge­ sellschaft ausgeht. Man spricht in diesem Zusammenhang von sog. Bedrohungsmanagement. 8 Diese Ereignisse und Entwicklungen haben das Straf­ und Strafprozessrecht nicht unberührt gelassen. 9 So wurden u. a. zusätzliche abstrakte Gefährdungstatbestände geschaf­ fen. 10 Mit dem Haftgrund der Ausführungsgefahr wurde eine rein präventive und damit polizeirechtliche Sicherheits­ 5 Vgl. Blätter, Die Stellung der Polizei im neuen schweizerischen Strafverfahren, ZStrR 128 (2010), 242, 243; ZalunardoWalser, Verdeckte kriminalpolizeiliche Ermittlungsmassnahmen unter beson­ derer Berücksichtigung der Observation, Zürich 1998, 9 f. 6 Vgl. Kraus, Rechtsstaatliche Terrorismusbekämpfung durch Straf­ und Strafprozessrecht, Frankfurt am Main 2012, 39 f. 7 In der Praxis werden solche Personen – in Ergänzung zur polizeirecht­ lichen Figur des Störers – auch als Gefährder bezeichnet (kritisch hierzu Denninger, Rechtsstaatliche Polizei in Zeiten intensivierter Prävention, Sicherheit & Recht 2012, 222, 227 f.). 8 Vgl. hierzu Hoffmann/Roshdi/von Rohr, Das Solothurner Modell eines Kantonalen Bedrohungsmanagements (KBM), in: Hoffmann/ Roshdi/von Rohr (Hrsg.), Bedrohungsmanagement, Projekte und Erfahrungen aus der Schweiz, Frankfurt amMain 2013, 9 ff.; Boess/ Elmiger, Bedrohungsmanagement im Bereich Häuslicher Gewalt – Sicherheit gegen Freiheit?, in: Schwarzenegger/Nägeli (Hrsg.), 7. Zürcher Präventionsforum – Häusliche Gewalt, Zürich/Basel/Genf 2015, 117, 119 f. 9 Vgl. Ackermann, Tatverdacht und Cicero – in dubio contra suspi­ cionem maleficii, in: Hurtado Pozo/Niggli/Queloz (Hrsg.), Fest­ schrift für Franz Riklin, Zürich 2007, 319, 321. 10 Zur Vorverlegung von Strafbarkeitsgrenzen siehe Ackermann (Fn. 9), 324 sowie Nussbaumer, Massnahmen gegen nicht fassbare Gewalt, Zürich 2008, 92 ff.; so stellt z.B. das Bundesgesetz vom 12. Dezem­ ber 2014 über das Verbot der Gruppierungen «AlQaïda» und «Isla­ mischer Staat» sowie verwandter Organisationen (SR 122) jegliche Art der Unterstützung solcher Gruppierungen unter Strafe.

2.

Zuständigkeiten in Gemengelagen und diesbezügliche Unsicherheiten

Eine Gemengelage zeichnet sich dadurch aus, dass eine Ge­ fahr abgewehrt und ein Tatverdacht abgeklärt werden muss. Strafverfolgung ist gemeinsame Aufgabe von Poli­ zei und Staatsanwaltschaft, wobei die Staatsanwaltschaft der Polizei übergeordnet ist. Die Polizei – nicht aber die Staatsanwaltschaft – ist ebenfalls für die Gefahrenabwehr

3 Siehe hierzu Ehrenberg/Frohne, Doppelfunktionale Massnahmen der Vollzugspolizei, Problematik der rechtlichen Einordnung, Krimi­ nalistik 2003, 737, 738 f. 4 Vgl. Uster, in: Niggli/Heer/Wiprächtiger (Hrsg.), BSK StPO, 2. Aufl., Basel 2014, Art. 15 N 2.

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