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JURISPRUDENCE

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form. Es muss allerdings kritisiert werden, dass es sich da­ bei nur um eine Feststellung ohne jede Begründung handelt (E. 1.4.2). Das Bundesgericht legt zwar dar, dass es zwei Rückweisungsvarianten gebe (Art. 329 Abs. 2 und Art. 333 Abs. 1 StPO), versäumt es aber, anders als die Vorinstanz, anzugeben, von welcher Variante hier nun auszugehen sei (E. 1.4.1). Die in der vorliegenden Urteilsbesprechung vor­ zunehmende Überprüfung der Rechtslage zeigt nun aller­ dings, dass in casu beide Varianten ausser Betracht fallen. b) Nach Gerichtshängigkeit gilt das Immutabilitätsprin- zip, wonach das Gericht gemäss Art. 340 Abs. 1 lit. b und Art. 350 Abs. 1 StPO an den Anklagesachverhalt gebunden ist und diesen unter Vorbehalt von Art. 333 Abs. 1 StPO nicht verändern kann (Niggli/Heimgartner, in: Niggli/ Heer/Wiprächtiger (Hrsg.), BSK StPO, 2. Aufl., Basel 2014, Art. 9 N 40 f.; Schmid, Handbuch Strafprozessrecht, 2. Aufl., Zürich/St.Gallen 2013, N 210 f.; BGer, Urteil v. 12. 9. 2012, 6B_60/2012, E. 3.3 f.; vgl. auch E. 1.2.1 des vorliegenden Entscheids). c) Gemäss Art. 329 Abs. 1 lit. a StPO prüft die Verfah­ rensleitung nach Anklageerhebung die ordnungsgemässe Erstellung der Anklage. Art. 329 Abs. 2 StPO besagt Fol­ gendes: «Ergibt sich aufgrund dieser Prüfung oder später im Verfahren, dass ein Urteil zurzeit nicht ergehen kann, so sistiert das Gericht das Verfahren. Falls erforderlich, weist es die Anklage zur […] Berichtigung an die Staatsan­ waltschaft zurück.» Laut Botschaft, Lehre und Bundesge­ richt kann eine Anklage gemäss Art. 329 Abs. 1 lit. a i. V.m. Abs. 2 StPO zur Berichtigung zurückgewiesen werden, wenn sie den formalen Vorgaben von Art. 325 StPO nicht entspricht, mithin die gesetzlichen Anforderungen nicht erfüllt und damit mangelhaft ist (Botschaft StPO, BBl 2006 1085, 1278; Stephenson/ZalunardoWalser, BSK StPO, Art. 329 N 2; Griesser, in: Donatsch/Hansjakob/ Lieber (Hrsg.), Kommentar StPO, 2. Aufl., Zürich/Basel/ Genf 2014, Art. 329 N 2; Schmid, Kommentar StPO, 2. Aufl., Zürich/St.Gallen 2013, Art. 329 N 2, 7; BGE 141 IV 39 E. 1.6.1; 141 IV 20 E. 1.5.4). Gründe für eine Rück­ weisung, also Anklagemängel, können aufgrund der Vor- prüfung gemäss Art. 329 Abs. 1 StPO erkennbar werden oder erst zu einem späteren Zeitpunkt, etwa während der Hauptverhandlung, auftreten, d. h. erkennbar werden (Botschaft, 1278 f.; Griesser, ZK StPO, Art. 329 N 19 m.H.; Schmid, Handbuch, N 1284; vgl. auch E. 1.4.1). Die Auffassung von Schmid in seinem Kommentar, wo­ nach eine Rückweisung auch dann erfolgen könne, wenn Fehler in der Anklage nicht bei der Vorprüfung, sondern erst nachträglich entdeckt würden (Schmid, Kommentar, Art. 329 N 10), widerspricht dem Bundesgericht (vgl. E. 1.4.1) und der Botschaft (vgl. oben) sowie seinen eigenen Ausführungen im Handbuch (N 1284) und ist damit zu verwerfen. Will man dem Gericht eine nachträgliche Behe­ bung des bei der Anklageprüfung nicht bemerkten Mangels zugestehen, hat diese jedenfalls spätestens bei den Vorfra­

den gesetzlichen Anforderungen nicht entspricht. Die dem Gericht hier eingeräumte Kompetenz geht weiter als dieje­ nige in Art. 329 Abs. 2 StPO und ermöglicht eine Anklage­ änderung (Griesser, a. a.O., N. 1 zu Art. 333 StPO). Eine Änderung der Anklage i. S. v. Art. 333 Abs. 1 StPO ist in Anwendung von Art. 379 StPO auch noch an der Beru­ fungsverhandlung möglich (Urteil 6B_428/2013 vom 15. April 2014 E. 3.3 m.H. sowie Urteil 6B_777/2011 vom 10. April 2012 E. 2; gl.M. Schmid, Praxiskommentar, a. a.O., N. 4 zu Art. 333 StPO bis und während der Urteils­ fällung möglich; Stephenson/ZalunardoWalser, a. a.O., N. 5b zu Art. 333 StPO; Pitteloud, Code de pro­ cédure pénale suisse, 2012, N. 884). 1.4.2. Nach den Feststellungen der Vorinstanz stimmte der Sachverhalt in der Anklageschrift – insbesondere hin­ sichtlich der Stelle, an welcher der Beschwerdeführer das Überholmanöver begonnen haben soll – nicht mit dem Be­ weisergebnis überein. Als die erste Instanz dies feststellte, sistierte sie das Verfahren und wies die Anklage zur Er­ gänzung bzw. Berichtigung an die Staatsanwaltschaft zurück. Mit dem Beschwerdeführer ist präzisierend fest­ zuhalten, dass dies erst nach dem Abschluss der Parteiver­ handlungen […] erfolgte […]. Nachdem die Staatsanwalt­ schaft eine bereinigte Anklageschrift einreichte, fand eine zweite Hauptverhandlung statt […]. Dieses Vorgehen ist entgegen der Auffassung des Beschwerdeführers selbst dann nicht bundesrechtsoder verfassungswidrig, wenn an der ersten Hauptverhandlung keine neuen Beweise er­ hoben wurden. Die Beschwerde ist in diesem Punkt abzu­ weisen. […] […] Bemerkungen: 1. Aufgrund des Vorbringens der Verteidigung im Plädoyer gelangte das Bezirksgericht zur Erkenntnis, dass der Ankla­ gesachverhalt bezüglich der Stelle des Beginns des Überho­ lens nicht mit dem Beweisergebnis des Vorverfahrens kor­ respondiere und wies die Anklage zur Berichtigung des Sachverhalts an die Staatsanwaltschaft zurück. Anlass dazu bildete mithin der Umstand, dass Staatsanwaltschaft und erste Instanz zu einem unterschiedlichen Beweisergebnis gelangten. Folglich liegt hier kein formaler Anklagemangel und – entgegen der Vorinstanz – auch keine Ungenauigkeit der Anklage vor. Ebenfalls ergab sich bei der Hauptver- handlung keine neue Beweislage. Aufgrund der Rückwei­ sung der Anklage änderte die Staatsanwaltschaft den Sach- verhalt bezüglich der Örtlichkeit des Überholens. Dass bei einer solchen Konstellation und in diesem Verfahrenssta­ dium, also nach Abschluss der Parteiverhandlungen, eine Rückweisung nach Art. 329 Abs. 2 StPO zur Anklagebe­ richtigung erfolgt, ist ungewöhnlich. Es ist zu prüfen, ob ein solches Vorgehen prozessual rechtmässig ist. 2.a) Das Bundesgericht erachtet im vorliegenden Fall Rückweisung und Anklageänderung als prozessrechtskon

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