forumpoenale_6_2016.pdf
325
RECHTSPRECHUNG
in welchem sich eine «NullRisikoHaltung» und die Angst der Strafund Vollzugsbehörden vor einer medialen Skanda lisierung etabliert haben, in Zukunft wohl immer häufiger werden. Das Beschwerdeverfahren wird vom Bundesgericht – unter Hinweis «auf den klaren gesetzgeberischen Willen» – mit zahlreichen Abweichungen vom gesetzlich vorgesehenen Regelbeschwerdeverfahren so zurechtgezimmert, dass das (Rechtsmittel)Verfahren der inhaltlichen Tragweite und der Eingriffsintensität des Entscheids gerecht wird. Der Hinweis des Bundesgerichts auf den «klaren gesetzgeberischen Wil len» und seine technischgrammatikalische Auslegung der entsprechenden StPOBestimmungen in BGE 141 IV 396 sind insofern (etwas) erstaunlich, als die I. öffentlichrechtliche Abteilung des Bundesgerichts in anderen Bereichen des Straf prozessrechts, namentlich im Haftrecht, nicht gezögert hat, «contra legem» ein Beschwerderecht der Staatsanwaltschaft einzuführen (vgl. BGE 137 IV 22, krit. dazu: Oberholzer, Der lange Weg zur Haftentlassung oder das neue Auslegungs prinzip der «Gewährleistung des Beschwerderechts der Staatsanwaltschaft», in: FP 2012, 156 ff.). Auch die Praxis des Bundesgerichts zur «vollzugsrechtlichen Sicherheitshaft» scheint die Haltung der Legislative aus reinen Zweckmässig keitsüberlegungen nicht allzu ernst zu nehmen (vgl. Joset/ Husmann, Freiheitsentzug jenseits des Rechts – eine Kritik der «vollzugsrechtlichen Sicherheitshaft», in: FP 2016, 165 ff.). Man hätte sich auch vorstellen (oder wünschen) kön nen, dass das Bundesgericht ein (mögliches) Versehen des Gesetzgebers auch mal zugunsten von beschuldigten Perso nen oder verurteilten Straftätern korrigiert. Das Bundesge richt propagiert nämlich bei der Gesetzesauslegung die «sachlich richtige Entscheidung im normativen Gefüge, aus gerichtet auf ein befriedigendes Ergebnis der ratio legis» (BGE 141 IV 396 E. 3.4 m.w.H.). Mit dieser Maxime könn ten einige Unzulänglichkeiten der Strafprozessordnung – auch zugunsten der Betroffenen – korrigiert werden. Bei der bevorstehenden Revision der StPO sollte der Gesetzgeber deshalb den Argumenten eines nicht unerhebli chen Teils des Schrifttums Rechnung tragen und Entscheide der Strafgerichte im gerichtlichen Nachverfahren (Art. 363 ff. StPO), mindestens in denjenigen Verfahren des Massnah menrechts, in denen regelmässig massive Einschränkungen der persönlichen Freiheit des Betroffenen zur Diskussion ste hen (d. h. bei nachträglicher Anordnung einer stationären therapeutischen Massnahme im Sinne von Art. 65 Abs. 1 StGB, bei der [nachträglichen] Anordnung oder Verlängerung einer stationären therapeutischen Massnahme im Sinne von Art. 59 Abs. 4 StGB bzw. Art. 62c Abs. 3 und 6 StGB sowie die [nachträgliche] Anordnung der Verwahrung gemäss Art. 62c Abs. 4 StGB), der Berufung unterstellen. Allerdings muss in diesem Zusammenhang reklamiert werden, dass im gleichen Zug für den Bereich der vollzugsrechtlichen Sicher heitshaft klare gesetzliche Grundlagen geschaffen werden müssten, ansonsten sich in rechtsstaatlicher Hinsicht – durch die «Urteil/Berufung»Lösung wird der erstinstanzliche Ent
scheid im Gegensatz zur heutigen «Beschluss/Beschwerde»Lösung nicht vollstreckbar und die Betroffenen benötigen,
will man sie nicht entlassen, einen alternativen Hafttitel – die Position der Betroffenen nicht wirklich verbessert. Ohnehin weckt es rechtsstaatliche Bedenken, wenn das gerichtliche Nachverfahren (insbesondere im Kontext von freiheitsent ziehenden Massnahmen) gesetzlich nur sehr rudimentär ge regelt ist. Hier obliegt es dem Gesetzgeber, ganz grundsätz lich ausreichende gesetzliche Grundlagen zu schaffen.
Alain Joset, Advokat und Fachanwalt SAV Strafrecht ■
2. Strafverfahrensrecht Procédure pénale
Nr. 38 Bundesgericht, I. öffentlichrechtliche Abteilung, Urteil vom 23. Mai 2016 i. S. A. gegen B. und Generalstaatsanwaltschaft des Kantons Thurgau – 1B_11/2016
Art. 30 StPO: Nichtigkeit bei unsachlicher Verfahrens trennung. Belasten sich die Beschuldigten gegenseitig und ist un klar, welcher Beschuldigter welchen Tatbeitrag geleistet hat, besteht bei einer Verfahrenstrennung die Gefahr sich widersprechender Entscheide, sei es in Bezug auf die Sachverhaltsfeststellung, die rechtliche Würdigung oder die Strafzumessung. Ein derartiger Widerspruch lässt sich nur bei einer einheitlichen Führung des Verfahrens vermeiden. Sprechen des Weiteren die Gesichtspunkte der Prozessökonomie und des Beschleunigungsgebots nicht für, sondern gegen eine Abtrennung, ist die Ver fahrenstrennung sachlich nicht begründet. Ein Entscheid ist nichtig, wenn der ihm anhaftende Man gel besonders schwer und offensichtlich oder zumindest leicht erkennbar ist und die Rechtssicherheit durch die Annahme der Nichtigkeit nicht ernsthaft gefährdet wird. Als Nichtigkeitsgrund fallen hauptsächlich funktionelle und sachliche Unzuständigkeit einer Behörde sowie schwerwiegende Verfahrensfehler in Betracht. Ist in einem Verfahren, in dem eine Verfahrenstrennung sachlich nicht begründet ist, gegen einen Mitbeschuldig ten das abgekürzte Verfahren durchgeführt worden, sind die Anklageschrift und das die Anklageschrift genehmi gende Urteil in einem unzulässigen Verfahren ergangen, weshalb es diese Rechtsakte nie hätte geben dürfen. Die
6/2016 forum poenale
Stämpfli Verlag
Made with FlippingBook