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JURISPRUDENCE
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gerung stellenden Fragen sind vielschichtig und nicht einfach zu beantworten. Es geht zur Hauptsache um Fragen der The rapierbarkeit des Beschwerdeführers und der Wirksamkeit/ Notwendigkeit einer weiteren stationären Therapieinter vention (in Abgrenzung zu einer ambulanten Behandlung) im Hinblick auf dessen Gefährlichkeit zur Verbesserung der Legalprognose. Diese Fragen beinhalten auch tatsächliche Bewertungsfragen. Es geht um die direkte Beurteilung der Person des Beschwerdeführers. Seine Anhörung und Befra gung unter Einbezug des psychiatrischen Gutachters er scheint daher essentiell. Hinzu kommt im vorliegenden Fall, dass sich die (Vollzugs) Situation nach dem Verfahren vor erster Instanz mit der Versetzung des Beschwerdeführers in den offenen Massnahmenvollzug massgeblich verändert hat. […] 5.4. Die Vorinstanz hätte nach dem Gesagten zusam menfassend aufgrund der Eingriffsintensität des Entscheids für den Beschwerdeführer und der Art der zu beurteilenden Fragen eine mündliche Verhandlung unter Beizug des Gut achters durchführen müssen. Besondere Umstände, welche ein Absehen davon rechtfertigen könnten, legt sie nicht dar. Solche Umstände sind auch nicht ersichtlich. […] Bemerkungen: Das Bundesgericht hatte aufgrund der Beharrlichkeit der Verteidigung die Möglichkeit, im gleichen Fall zweimal seine Position im Zusammenhang mit den Modalitäten im Rechts mittelverfahren bei gerichtlichen Nachverfahren darzulegen und zu begründen. Nach dem Leitentscheid BGE 141 IV 396, in welchem die Art des Rechtsmittels (Berufung oder Beschwerde) im Zentrum stand, thematisiert das Urteil vom 26. Mai 2016 die Frage, ob im Rechtsmittelverfahren eine mündliche Verhandlung, verbunden mit der Anhörung und Befragung des Betroffenen und unter Einbezug des psychia trischen Gutachters, durchgeführt werden muss. Der Entscheid des Bundesgerichts und die damit verbun dene Konkretisierung der Modalitäten des Beschwerdever fahrens bei gerichtlichen Nachverfahren sind im Ergebnis sicher richtig. Aufgrund der drohenden massiven Grund rechtseingriffe sowie des oft schwierigen Beweisthemas im Massnahmenrecht ist die Durchführung einer mündlichen Verhandlung – auch im Rechtsmittelverfahren – absolut opportun. Der Entscheid stärkt den Betroffenen als Verfah renssubjekt – er soll vom urteilenden Gericht persönlich an gehört und befragt werden. Das Urteil des Bundesgerichts ist in diesem Punkt ein Lichtblick im Zusammenhang mit einer ganzen Reihe von beunruhigenden Entwicklungen imMass nahmenrecht, welches sich – im Gegensatz zum Strafund Strafverfahrensrecht – immer mehr als ein ausschliessendes und entindividualisiertes Recht präsentiert. Die Durchfüh rung einer mündlichen Verhandlung macht auch Sinn, wenn im Rechtsmittelverfahren Einschätzungen von psychiatri schen Sachverständigen entscheidrelevant sind. Zu bedauern
ist, dass sich das Bundesgericht im vorliegenden Urteil nicht zur Bedeutung von Art. 6 EMRK und der entsprechenden Garantie auf eine mündliche gerichtliche (Haupt)Verhand lung, die öffentlich geführt wird, äussert, obschon der Be schwerdeführer im bundesgerichtlichen Verfahren eine ent sprechende Rüge vorgetragen hat. Im vorliegenden Verfahren stand ein weiterer staatlicher Freiheitsentzug für die Dauer von drei Jahren zur Diskussion, sodass die X. drohende Frei heitsentziehung in den Anwendungsbereich von Art. 6 EMRK fallen müsste. Die Garantien von Art. 6 EMRK kom men bekanntlich immer dann zur Anwendung, wenn über die Stichhaltigkeit der gegen eine Person erhobenen straf rechtlichen Anklage («criminal charge»/«bienfondé de toute accusation en matière pénale») oder zivilrechtliche Ansprü che («civil rights») entschieden wird. Wenn die dem Betrof fenen angedrohte Strafe oder Sanktion Freiheitsentziehung darstellt, so scheint der Europäische Gerichtshof für Men schenrechte (EGMR) grundsätzlich eine Strafsache anzuneh men (vgl. Urteil EGMR v. 9. 10. 2003 i. S. Ezeh u. Connors v. Great Britain [39665/98 Nr. 126, Slg. 03x]). Jedenfalls bejaht der EGMR die Anwendbarkeit von Art. 6 EMRK in gerichtlichen Nachverfahren (vgl. Urteil EGMR v. 16. 7. 2015 i. S. Kuttner v. Austria [7997/08]). Aufgrund der Erwägungen des Bundesgerichts im vorlie genden Urteil erscheint klar, dass auch im erstinstanzlichen Verfahren nach Art. 363 ff. StGB – sei es gestützt auf die Garantie von Art. 6 EMRK, sei es aufgrund des gravieren den Eingriffs in die Freiheitsrechte der Betroffenen und der Natur des Beweisthemas – eine mündliche Verhandlung durchgeführt werden muss. Dass Gerichte offenbar die Tendenz haben, die für die Betroffenen einschneidenden Ent scheide imMassnahmenrecht lieber im schriftlichen Verfah ren zu erledigen, ist nicht verständlich. Gerichtsorganisato rische Gründe vermögen den bedeutenden Rechtsanspruch der Betroffenen und die auf dem Spiel stehenden Individual interessen jedenfalls nicht zu verdrängen. Es sollte eigentlich als Selbstverständlichkeit gelten, dass Richterinnen und Richter, welche Mitmenschen zu freiheitsentziehenden, mas siv schuldüberschiessenden «Zwangstherapien» verurteilen oder diese verwahren lassen, ihrem Gegenüber dabei in die Augen schauen. Das bekannte ethische Prinzip, wonach an deren Menschen nichts angetan werden sollte, worüber man empört wäre, wenn man es selbst erfahren müsste, gilt ganz besonders auch im Strafprozessrecht. Die «Gesichtslosig keit» des Verfahrens in reinen Aktenprozessen widerspricht einerseits unserem (Rechts)Verständnis von Strafprozessen, von Würde und Respekt sowie der «habeas corpusTradi tion» und schadet andererseits der Akzeptanz der Strafjustiz (vgl. Patrick Guidon, Von Angesicht zu Angesicht, in: NZZ v. 13. April 2015, S. 21). Im Weiteren zeigen dieser Fall und auch das Urteil klar, dass die Beschwerde das falsche Rechtsmittel darstellt. Ge richtliche Nachverfahren im Bereich des Massnahmenrechts werden aufgrund des derzeitigen rechtspolitischen Klimas,
forum poenale 6/2016
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