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Prof. Dr. Frank Meyer, Universität Zürich, mgr Marta Więckowska, Universität Zürich Die Rechtsprechung des EGMR in Strafsachen im Jahr 2015
Inhaltsübersicht:
dere Zweck nicht zwingend der überwiegende, prägende Faktor sein muss. Das objektive Moment der schweren Ge waltanwendung kann nicht nur ebenso schwer wiegen, son dern im Einzelfall sogar entscheidend für die Einstufung als Folter sein. Die Verschiebung der Gewichte zeigt sich auch darin, dass der EGMR das intentionelle Element der Folter aus den objektiven Umständen gewinnt, weil diese hinsichtlich der Motivation der Polizisten nur einen einzi gen Schluss zuliessen. 4 Hierdurch sichert der Gerichtshof die Bewertung zugleich gegen allfällige Schutzbehauptun gen (z. B. vorgebliche Putativirrtümer) ab. Diese Vorgehens weise dürfte auch für künftige Fälle wichtig werden, in de nen, wie vielfach bei Fällen unter Art. 3, keine Klarheit über die Motivationslage zu gewinnen ist. Über den Fall Bouyid v. Belgium war bereits in der Über sicht für das Jahr 2013 berichtet worden. 5 Am 28. 9. 2015 hat nun die Grosse Kammer entschieden. Sie weicht ganz erheblich von den Bewertungen der Kammer ab. Zwei min derjährige Brüder waren an unterschiedlichen Tagen bei ei ner Identitätsfeststellung resp. Befragung auf einer Polizei wache von einem Polizisten geohrfeigt worden. Die Ohrfeigen liessen sich vorliegend weder als unmittelbarer Zwang noch als Notwehr/hilfe rechtfertigen. Sie standen nicht einmal im Konnex mit einer bestimmten Verfügung oder Zwangsmassnahme. Den atmosphärischen Hinter grund der Ohrfeigen bildete eine von beiden Beschwerde führern bewusst betriebene Provokation. Die Polizisten re agierten auf die fortgesetzten Respektlosigkeiten frustriert mit einer Ohrfeige, um sich gewissermassen Satisfaktion zu verschaffen. Die Schläge hinterliessen zwar keine gravieren den physischen Spuren. Umso mehr Aufmerksamkeit mass die Grosse Kammer aber den Folgen für die persönliche und psychische Integrität zu. Sie nutzt die Gelegenheit, die Be einträchtigungsform der erniedrigenden Behandlung aus drücklich und stärker als zuvor mit dem Schutz der Men schenwürde in Verbindung zu setzen. 6 Während die Menschenwürde bei den beiden anderen Beeinträchtigungs
I. Art. 3 EMRK II. Art. 5 EMRK
1. Rechtmässigkeit des Freiheitsentzugs 2. Präventiver Freiheitsentzug
III. Art. 6 EMRK IV. Art. 7 EMRK V. Art. 8 EMRK VI. Art. 10 EMRK
I.
Art. 3 EMRK
Der Fall Cestaro befasst sich mit dem nächtlichen Sturm einer Spezialeinheit der italienischen Polizei auf eine Schule während des G 8Gipfels in Genua im Jahr 2001, der da mals international für Aufsehen sorgte und viele Beobach ter schockierte. 1 In dem Schulgebäude hatten sich rechtmäs sig friedliche Demonstranten aufgehalten, die auf brutale Weise mit Schlagstöcken traktiert wurden. Der Beschwer deführer erlitt mehrere Knochenbrüche und trug eine dau erhafte Behinderung seines rechten Armes und Beines da von. 2 Der EGMR macht keinen Hehl daraus, dass er den Einsatz für einen masslos brutalen, völlig willkürlichen Re vancheakt der Polizei hält, und qualifiziert das Vorgehen daher als «Folter». Auch unter Berücksichtigung der dama ligen, extrem aufgeheizten Umstände und der hasserfüllten Gewalttätigkeiten autonomer Gipfelgegner, die der Polizei in den Tagen zuvor entgegengeschlagen waren, lässt sich ein derartiges Versagen jeglicher rechtsstaatlicher und ethischer Hemmschwellen kaum erklären. Rechtlich interessiert der Fall vor allem, weil der EGMR ihn zum Anlass für präg nante Ausführungen zumWesen der Folter nimmt. Es wird klargestellt, dass neben der objektiven Schwere ein purpo- sive element (z. B. Aussageerpressung, Bestrafung; vgl. Art. 1 UNCAT) als subjektives Element ein notwendiges Tatbestandsmerkmal von Folter und als solches indisponi bel ist. 3 Deutlich gemacht wird aber auch, dass der beson
EGMR, Cestaro v. Italy, § 177.
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5 EGMR (GK) v. 21.11.2013, Bouyid v. Belgium; s.a. Meyer/ Wieckowska, Die Rechtsprechung des EGMR in Strafsachen im Jahr 2013 (Teil 1), FP 2014, 369, 375. 6 EGMR (GK), Bouyid v. Belgium, §§ 45 ff., 89 ff.
1 EGMR v. 7.4.2015, Cestaro v. Italy, § 190. 2 EGMR, Cestaro v. Italy, § 178. 3 EGMR, Cestaro v. Italy, §§ 171 f.
forum poenale 6/2016
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