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AUFSÄTZE 351

2. a)

Die drei Elemente des Tatverdachts

desto höhere Anforderungen sind an den Verdachtsgrad zu stellen. 13 Zweitens ist die Art des Grundrechtseingriffs ab­ hängig von der Schwere des Tatvorwurfes: Je schwerer die vorgeworfene Tat, desto einschneidender sind die möglichen Massnahmen. 14 Einleitende Bemerkungen Polizeiliche Ermittlungen, und insbesondere Zwangsmass­ nahmen, haben nicht der Begründung eines Tatverdachts zu dienen. Vielmehr haben sie den Zweck, einen vorbeste- henden Tatverdacht zu erhärten, diesen zu verdichten. 15 Bei Vorliegen eines Anfangs verdachts hat die Polizei Ermittlun­ gen aufzunehmen. 16 Hingegen sind Ermittlungshandlungen ohne Anfangsverdacht als Ergebnisse sogenannter Be­ weisausforschung («fishing expedition») von einem Beweis­ verwertungsverbot betroffen. 17 b) Hürde des Anfangsverdachts Zur Bejahung eines Anfangsverdachts reicht die Annahme einer gewissen Wahrscheinlichkeit strafbaren Verhaltens, wobei zu Beginn des Verfahrens durchaus Zweifel bestehen können, ob überhaupt ein Delikt begangen wurde. 18 Ob ein genügender Anfangsverdacht besteht, ist häufig Gegenstand juristischer Streitigkeiten. Die vom Bundesge­ richt gesetzte Hürde ist nicht besonders hoch. So hat das Bundesgericht den Anfangsverdacht bejaht nach einer «mo­ tivierten» Anzeige eines Rechtsanwaltes 19 oder bei «vertret­ baren» Anschuldigungen eines angeblichen Opfers von se­ xuellen Übergriffen. 20 Auch Medienberichte 21 oder «sources confidentielles et sûres» 22 hat das Bundesgericht für die Be­ gründung eines Anfangsverdachts anerkannt. Hingegen befand das Bundesgericht, 23 dass – nach hier vertretener Auffassung zu Unrecht – Drogen im Kühl­ schrank einer von mehreren Personen bewohnten Wohnung den Tatverdacht gegen den Mitbewohner wegen Betäu­ bungsmittelwiderhandlungen nicht rechtfertigten würden. 4. a) Der Anfangsverdacht 13 Ackermann (Fn. 3), 331. 14 Hauser/Schweri/Hartmann, Schweizerisches Strafprozessrecht, 6. Aufl., Basel/Genf/München 2005, § 68 N 9, wo als zusätzliches Element die erwartete Strafe ins Spiel gebracht wird. 15 Ähnlich Landshut/Bosshard, in: Donatsch/Hansjakob/Lieber (Hrsg.), Kommentar zur Schweizerischen Strafprozessordnung, 2. Aufl., Zürich/Genf/Basel 2014, Art. 299 N 26; Gfeller/Thor­ mann, BSK StPO (Fn. 6), Art. 243 N 16; Hürlimann (Fn. 5), 109. 16 Art. 7 Abs. 1 StPO i.V.m. Art. 299 Abs. 2 StPO. 17 Gfeller/Thormann, BSK StPO (Fn. 6), Art. 243 N 39 ff. 18 BVerwGer, Urteile v. 8.3.2009, A7342/2008 und A7426/2008 so­ wie BGer, Urteil v. 1.10.2014, 1C_653/2012, E. 5.4 in fine. 19 BGE 106 IV 413, 418 ff. 20 BGer, Urteil v. 14.2.2014, 1B_445/2013, E. 2.2. 21 BGE 132 I 181, 193 ff.; BGer, Urteil v. 31.1.2014, 1B_293/2013, E. 2.3.2.

Tatsachen Beim ersten Element, den Tatsachen, muss es sich um vor­ bestehende, objektiv begründete Anhaltspunkte bzw. Tat­ sachen handeln, 4 also um einen sinnlich wahrnehmbaren und auch tatsächlich wahrgenommenen Lebensvorgang bzw. Zustand. 5 Vermutungen zu möglichen Lebensvorgän­ gen oder Gerüchte reichen ebenso wenig aus wie mathema­ tische Wahrscheinlichkeiten. 6 b) Erkenntnisse allgemeiner Natur Das zweite Element sind Erkenntnisse allgemeiner Natur, z. B. Erfahrungen, Errungenschaften der Kriminalund So­ zialwissenschaften, Elemente der Medizin, Physik, Biologie oder Chemie, die es dem Betrachter erlauben, aus den ob­ jektiv vorhandenen, vielleicht erst fragmentarischen Tatsa­ chen einen Sachverhalt zu rekonstruieren. 7 Die strafrechtliche Relevanz Drittes Element ist die strafrechtliche Relevanz. 8 Ausgangs­ punkt ist die Frage, ob ein strafbares Verhalten vorliegen könnte oder nicht. Heranzuziehen ist also das materielle Recht als Programm, hier als Verdachtsprogramm. 9 Ohne Strafbestimmung keinen Tatverdacht: Mag das Verhalten moralisch noch so verwerflich sein, wenn es strafrechtlich nicht verpönt ist, kann kein Verdacht aufkommen. 10 c) Verdachtsgrad bezeichnet die Intensität des Tatverdachts, anders gesagt die Höhe der Wahrscheinlichkeit für eine Ver­ urteilung des für das objektive Geschehen verantwortlichen Beschuldigten. 11 Ob strafprozessuale Grundrechtseingriffe gerechtfertigt sind und – falls ja – welche, hängt erstens von der Schwere des Tatverdachts ab. 12 Je schwerer der Grundrechtseingriff, 4 Ackermann (Fn. 3), 325 f. 5 Hürlimann, Die Eröffnung einer Strafuntersuchung im ordentlichen Verfahren gegen Erwachsene im Kanton Zürich, Zürich 2006, 96 f.; vgl. auch Walder, Grenzen der Ermittlungstätigkeit, ZStW 95 (1983), 862, 867. 6 Ackermann (Fn. 3), 326; Omlin, in: Niggli/Heer/Wiprächtiger (Hrsg.), BSK StPO, 2. Aufl., Basel 2014, Art. 309 N 27; ähnlich Hür­ limann (Fn. 5), 96; Walder, Strafverfolgungspflicht und Anfangs­ verdacht, recht 1990, 1, 3. 7 Hürlimann (Fn. 5), 97 f.; Walder/Hansjakob, Kriminalistisches Denken, 10. Aufl., Heidelberg 2016, 100. 8 Hürlimann (Fn. 5), 98. 9 Walder/Hansjakob (Fn. 7), 102; Ackermann (Fn. 3), 326. 10 Walder (Fn. 6), 4; Ackermann (Fn. 3), 327; Hürlimann (Fn. 5), 98; Walder/Hansjakob (Fn. 7), 102. 11 Hagenstein, BSK StPO (Fn. 6), Art. 302 N 24; ähnlich Hürlimann (Fn. 5), 101; Walder/Hansjakob (Fn. 7), 108; zum Ganzen ausführ­ lich Schulz, Normiertes Misstrauen, Der Verdacht im Strafverfah­ ren, Frankfurt 2001, 566 ff. 12 Hürlimann (Fn. 5), 95. 3. Die verschiedenen Verdachtsgrade und ihre Bedeutung

22 BGer, Urteil v. 8.6.2016, 1B_63/2016. 23 BGer, Urteil v. 26.6.2014, 6B_628/2013.

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