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Im öffentlichen Recht ist die Methode der Güterund Interessenabwägung bei Grundrechtskollisionen seit Lan gem etabliert. 32 Während dort unterschiedliche Grund rechte Privater in Konflikt stehen, findet sich in Gemenge lagen auf der einen Seite das Interesse – und je nach den Umständen ein grundrechtlicher Anspruch – des Opfers auf Schutz durch den Staat und auf der anderen Seite das Inte resse an der Durchsetzung des Strafrechts. Die Konstella tion ist somit nicht gleich, aber doch gleichartig: Gestützt auf die in Verfassung und Gesetzen festgeschriebenen Werte und Prinzipien muss ermittelt werden, welcher Seite in der konkreten Situation mehr Gewicht zukommt. Somit er scheint es richtig, die Aufgabenkollision zwischen Gefah renabwehr und Strafverfolgung ebenfalls mittels Güterund Interessenabwägung zu lösen. 33 Den Autoren, welche diesen Entscheid auf eine Abwägung der im konkreten Fall betrof fenen Interessen, Rechtsgüter und Umstände stützen wol len, ist somit zuzustimmen. Die Abwägung der Güter und Interessen ist so vorzuneh men, dass die kollidierenden Aufgaben optimal verwirklicht werden; das bedeutet, dass die weniger wichtige Aufgabe nur so weit zurückweicht, als dies unbedingt erforderlich ist. 34 Bei der Abwägung sind alle Umstände des Einzelfalls zu berücksichtigen. Für die Gefahrenabwehr besonders re levant sind das Gewicht des bedrohten Rechtsgutes sowie die Wahrscheinlichkeit und das Ausmass der Gefahr. Auf seiten der Strafverfolgung sind vor allem die Schwere der Straftat sowie die Stärke des Tatverdachtes von Bedeu tung. 35 Dieselben Regeln gelten auch für die sog. doppelfunkti onalen Massnahmen, 36 welche beide Aufgaben gleichzeitig erfüllen. 37 Auch hier gilt es, beide Aufgaben so gut als mög lich zu erfüllen. Strafprozessuale Verfahrensvorschriften sind deshalb zu beachten, soweit dadurch die prioritäre Ge fahrenabwehr nicht erschwert wird. 38 bb) Wem kommt die Entscheidkompetenz für die Güter- und Interessenabwägung zu? Nachdem geklärt ist, dass ein Aufgabenkonflikt durch eine Güterund Interessenabwägung zu lösen ist, stellt sich die Frage, wem die Entscheidkompetenz dafür zukommt. Mehrheitlich wird die Auffassung vertreten, dass dieser Ent 32 Vgl. Martin, Grundrechtskollisionen, Basel 2007, 205 m.w.H. 33 Vgl. Kunzmann, Die Kollusion zwischen der Aufgabe der Gefahren abwehr und anderen Aufgaben der Polizei, Göttingen 1990, 88 f. 34 Vgl. Kunzmann (Fn. 33), 89 f. unter Bezugnahme auf die praktische Konkordanz. 35 Vgl. hierzu eingehend Kunzmann (Fn. 33), 97 ff. 36 Siehe Nolte (Fn. 27), 343 ff.; Rhyner, BSK StPO (Fn. 4), Art. 306 N 6. 37 Ein typisches Beispiel dafür ist die Festnahme eines Entführers, wel che gleichzeitig die Befreiung des Entführungsopfers bewirkt. 38 Ausführlicher hierzu: Berger (Fn. 1), 30.
renabwehr als auch für das Strafprozessrecht zuständig wa ren. 25 Jene Autoren, die sich zur Frage äussern, vertreten im Wesentlichen zwei unterschiedliche Positionen: Die Mehr heit bestimmt das anwendbare Recht bei einem Konflikt zwischen Gefahrenabwehr und Strafverfolgung durch eine Interessenabwägung. 26 Eine Minderheit geht von einer Prä- dominanz der StPO 27 aus und vertritt die Auffassung, dass in jedem Fall nach den Regeln der StPO vorzugehen sei, wenn das polizeiliche Handeln gleichzeitig auch der Straf verfolgung diene. 28 Würdigung Ausgangspunkt zur Klärung des anwendbaren Rechts bei Gemengelagen ist der Umstand, dass es sich dabei um Situ ationen handelt, in denen zum einen eine Gefahr vorliegt, die es abzuwehren gilt, und zum anderen ein Tatverdacht, der zur Strafverfolgung verpflichtet. Grundsätzlich kom men somit beide gesetzlichen Grundlagen zur Anwendung; man spricht auch von einer Doppelzuständigkeit. 29 Aus Sicht der Praxis müssen vor allem die zwei nachfolgend un ter aa) und bb) formulierten Fragen beantwortet werden. Falls die Aufgabe der Gefahrenabwehr und diejenige der Strafverfolgung in Konflikt geraten, muss letztlich entschie den werden, welche dieser zwei grundlegenden staatlichen Aufgaben erfüllt wird und welche zurücktritt. Dabei sind grundrechtliche Schutzpflichten 30 zu beachten, vor allem in den hier speziell interessierenden Fallkonstellationen von Entführungen, Drohungen oder Erpressungen. Denn der Staat ist unmittelbar aus den Grundrechten zum Ergreifen von Schutzmassnahmen verpflichtet, falls hochwertige Po lizeigüter in Gefahr sind, insb. das Recht auf Leben. 31 c) aa) Was gilt im Falle einer Aufgabenkollision von Gefahren- abwehr und Strafverfolgung? 25 Vgl. Reinhard (Fn. 2), 132 f. 26 Vgl. Pfander (Fn. 2), 96 f.; Reinhard (Fn. 2), 134; Rhyner, BSK StPO (Fn. 4), Art. 306 N 7; Donatsch/Käser, Die strafrechtliche Verantwortlichkeit des Verhandlungsführers bei Geiselnahmen, Kri minalistik 2010, 47, 48; Mohler, Grundzüge des Polizeirechts in der Schweiz, Basel 2012, 810. 27 Der Begriff lehnt sich an die im deutschen Schrifttum postulierte Prä- dominanz der Prävention an (siehe Ehrenberg/Frohne [Fn. 3], 739; Nolte, Doppelfunktionale Massnahmen in der polizeilichen Praxis, Kriminalistik 2007, 343, 345 f.). 28 Oberholzer (Fn. 20), N 81 ff.; Kettiger (Fn. 21), N 10; ähnlich auch Keller, in: Donatsch/Hansjakob/Lieber (Hrsg.), Kommen tar zur Schweizerischen Strafprozessordnung, 2. Aufl., Zürich/Basel/ Genf 2014, Art. 15 N 4. 29 Reinhard (Fn. 2), 134; Rhyner, BSK StPO (Fn. 4), Art. 306 N 7. 30 Siehe hierzu Egli, Grundrechte, Aktuelle Entwicklungen im Sicher heitsund Polizeirecht, Sicherheit & Recht 2012, 193, 196. 31 Vgl. Baumann, Aargauisches Polizeigesetz, Praxiskommentar, Zü rich/Basel/Genf 2006, N 217 f.
forum poenale 6/2016
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